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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Vertov, Dziga: Vom "Kino-Auge zum "Radio-Auge": (aus dem Alphabet der "Kinoki")
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0442

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gestellte Thema finden. Es will zusammen mon-
tieren, aus Millionen von Fakten und Gegeben-
heiten die Bilanz ziehen, durch die Kamera das
Charakteristischste und Zweckmäßigste heraus-
reißen. Alle herausgegriffenen Stücke will es
in eine sinnfällig visuelle rhythmische Linie, in
eine sinnfällig visuelle Form bringen, in ein extra-
hiertes „Schaue!"

12.

Die Vergangenheit des Kino-Auges — ist ein
harter Kampf um die Änderung des Kurses der
Welt-Kinematographie, um das Verlegen des
Schwerpunktes der ganzen Welt - Kinemato-
graphie von dem Spielfilm auf den ,,ungestellten
Film", von dem inszenierten Film auf den doku-
mentären, von der Arena des Theaters auf die
Arena des Lebens.

13.

Kurzgefaßt — die Bilanz der Arbeit:

Erstens: Publiziert, entwickelt und popu-
larisiert das Manifest der Kinoki über
d i e u n g e s t e 111 e Kinematographie,—
„Kinoki-Umwälzun g".

Zweitens: Zur Bekräftigung des Mani-
festes wurden zirka 100 Beispiele des ungestell-
ten Filmes von der primitiven Chronik bis zu den
kompliziertesten, dokumentären Kino-Werken
geschaffen.

Drittens: Es wurde eine spezifische Kino-
sprache, spezifische Aufnahme und Montagever-
fahren gefunden. Die vollständige Trennung der
Kino-Sprache von der Theater- und Literatur-
sprache ist vollbracht. Der Begriff: „Dokumen-
tare Kinoschrift" wurde aufgestellt.

Viertens : Der Entwurf für eine experimen-
telle Kinostation der Tatsachen-Fixierung, die in
eine Fabrik des ungestellten Filmes, in eine
Fabrik der Fakten ausgebaut werden sollte,
wurde vorgelegt.

Fünftens: Auf den Spielfilm wurde hin-
sichtlich der Veränderung der Kino-Sprache ein
großer Einfluß ausgeübt. Allein die zunehmende
Entlehnung der rein äußeren Manier des Kino-
Auges durch die sogenannten künstlerischen
Filme genügte schon (Streik, Panzerkreuzer Po«
temkin und andere), um im Gebiet des Spielfilms
eine große Sensation hervorzurufen.

Sechstens: Auf alle Gebiete der so-
genannten Kunst wurde großer Einfluß ausgeübt.
Besonders auf das Schaffen der Musik und des
Wortes. Schon im ersten Manifest wenden sich
die Kinoki an die Schriftsteller mit der Aufforde-
rung, die erste Nummer der hörbaren Chronik —
Radio — Chronik heraus zu geben. Ossinski for-
dert die Literatur auf, die von dem Kino-Auge
eingeschlagene Richtung, den Weg der Organi-

sation der fixierten Tatsachen zu befolgen. Brigg
stellt für die Fotografie das Kino-Auge als Bei-
spiel auf.

Siebentens: Vom Radio-Auge.

Schon in ihren ersten Erklärungen in Hinblick
auf die Zukunft, in der Zeit, als der Sprechfilm
noch nicht erfunden war, haben die Kinoki (jetzt
Radioki) ihren Weg als den Weg vom Kino-Auge
zum Radio-Auge bezeichnet, das heißt zum
hörbaren und per Radio zu überge-
benden Kino-Auge. Es wurde die Aufgabe
gestellt, die Werktätigen der ganzen Welt nicht
nur durch das Sehen, sondern auch durch das
gleichzeitige Hören miteinander zu verbinden.
Die gesamte Presse hat auf diese Vorschläge
stark reagiert, aber in kurzer Zeit ist die Auf-
merksamkeit für diese als der fernen Zukunft
angehörende Idee erlahmt.

Aber die Kinoki haben sich inzwischen für den
Übergang zur Arbeit des „Radio-Auges" in der
Richtung des ungestellten Lautfilmes vorbereitet.

Schon im „Sechsten Teil der Welt" werden
die Überschriften durch das kontrapunktisch auf-
gebaute Wort — Radio — Thema ersetzt. Das
„Elfte" ist schon als „Schaubar-hörbares" Kino-
werk konstruiert, d. h. nicht nur visuell, son-
dern auch als Geräusch, als Laut no-
tiert. In diesem Sinne ist auch „Der Mann mit
der Kamera" in der Richtung vom „Kino-
Auge" zum „Radio-Auge" aufgebaut.

Achtens : Die technischen und praktischen
Arbeiten der Kinoki-Radioki haben schon längst
die momentanen technischen Möglichkeiten über-
holt und warten nur auf die technische Basis für
die Verbindung des Laut-Kinos mit dem pla-
stischen Sehen.

Die letzten technischen Erfindungen auf die-
sem Gebiet liefern dem „Radio-Auge", d. h. in
die Hände der Laut-Dokumentaren Kino-
schrift die mächtigste Waffe für den Kampf
um das „Ungestellte".

Neuntens: Von der Montage der Schau-
baren und auf dem Filmband aufgezeichneten
Fakten (Kino-Auge) — zu der Montage der
Schaubar-hörbaren und der Radio übergebene
Fakten (Radio-Auge) — zu der Montage gleich-
zeitig schaubar-hörbar-riechbar und tastbarer
Fakten —

zu der die menschlichen Gedanken überrum-
pelnden Aufnahme, und endlich

zu den Versuchen einer direkten Organisation
der Gedanken (d. h. auch der Handlungen) der
gesamten Menschheit. — Dies sind die techni-
schen Perspektiven des „Kino - Auges", die
durch den O k t o b e r ins Leben gerufen wurden.

Dsiga Werthoff

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