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Charis: rhein. Morgenzeitung für gebildete Leser (4) — 1824

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No 92-104 (August 1824)
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https://doi.org/10.11588/diglit.22120#0428

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Rheiniſche Morgenzeitung fuͤr gebildete Leſer.

Nis 102. Mittwoch den 5. Auguſt 18.

Gehorſam den Regenten! — Achtung dem wahren Adel! — Allgemeinheit
dem echten Chriſtenthum! — Friede und Segen den Hütten! —

Die ſchöne Amaryllis.

Ihr Leben ſchwillt in zarter Knospenhülle,
Und, ſanft gedraͤngt in linder Mayennacht,
Entſteigt dem Kelch' die ſchönſte Blüthenfulle
In ſtolzer Purpurpracht.

Sie grüßt Aurorens goldne Roſenſchoͤne,
Saugt aus der Strahlen ſüßem Lichterguß'
Sich Lebenskraft, doch ſchon in Sterbetöne
Verhallt ihr Morgengruß.

Da bebt durch's Hochroth leiſer Todesſchauer,
Und ſchnell erblaßt des Purpurs dunkles Gluͤh'n;
Das junge Leben welkt in ſtiller Trauer,
Da kaum es war verlieh'n.

Wie? — Geſterm erſt dein ſchoͤnſtes Seyn begonnen,
Und heute ſchon in's todte Nichts geſenkt?
Hat die Natur dem Schoͤnen ſolche Wonnen,
Und ſolches Loos geſchenkt?

Ach! das Erhab'ne ſtirbt, das Schöne endet; —

Nur Augenblicke täuſcht ſeinnicht'ger Glanz!

Wann — Seyn und wieder Nichtſeyn — endet
Ihr euren Wechſeltanz?!
Fulda. Wolf.

Die Zwillingsbrüder.

IV.

Wirklich blieben Gormas und der Wandersmann
am Felſenhange ſtehen und begannen ein Geſpräch mit
einander, das ſo recht innig zur Seele drang. Die Ver-
anlaſſung dazu gab der arme Knabe, deſſen kindlichen Blick
Gormas nicht vergeſſen konnte. Der Pilger erzaͤhlte
ſein Schickſal, — daß er einſt zu jenen unglücklichen Ber-
gesſöhnen gehört, die man Krüppel nennt; und er das
Schlangenauge des Menſchenhaſſes auf jedes beglückte
Weſen geworfen; daß ihn ein Blick in ein reines Auge
wunderbar erfaßt und ihm zuletzt auch das Licht gegeben
habe, welches ihm den Weg zu den Menſchenherzen, zu
Gott und zu ſeiner eigenen Verklaͤrung erleuchtete. Jetzt
war der Augenblick der Sühnung gekommen. Wie ein
Kranker die Hand des rettenden Arztes faßt und mit
Thraͤnen der Ruͤhrung und des Vertrauens überſtroͤmet:
ſo griff Gormas nach dieſem Troſte, der ihm, wie
Manna in der Wüſte, herniederthaute. Nun ſah er ein,
daß jeder Menſch einen Freund finde; daß jeder Menſch
einen Schluͤſſel mit ſich trage zu den Herzen der Mitmen-
ſchen; daß jeder Menſch ſein eigner Maler ſey, deſſen
Pinſel die That; deſſen Farbe das Gefühl und deſſen Folie
das Herz ſeines Naͤchſten heißt. Mit dieſem Bewußtſeyn
 
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