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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 4.1893

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Schulze, Otto: Gegen die Überschätzung des goldenen Schnittes
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https://doi.org/10.11588/diglit.11380#0239

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September-Heft.

Seite s37.

regen die ^rberschähung des goldenen ^chniites.


Von Architekt Vtto Schulze.

n wir etwas übermächtig loben, d. h. obenan stellen, dann
ist wohl kein anderes Eigenschaftswort so vielsagend, ver-
sichernd und blendend, als das unheilvolle, gleißnerische
„golden", lind ist nicht schließlich dieses verführerische Wort allein
schuld gewesen, den harmlosen Satz der Geometrie zu einem Evangelium
aufzubauschen! dessen gesuchte Auslegung füglich den verwegensten
Schlüssen Raum geben mußte!?

Obgleich seit Jahrhunderten über den goldenen Schnitt eine eigene,
umfangreiche Literatur angewachsen ist, vergeht fast kein Jahr, ohne
daß ein klügelnder, fin-
diger Schatzgräber die
Welt mit einem „neu-
vergoldeten" Traktät-
chen darüber beglückt.

Ich selbst stehe dem, was
man aus dem goldenen
Schnitt gemacht hat,
viel zu nüchtern gegen-
über, um hier neue
Schönheitsregeln zu pre-
digen. Die Kunstge-
schichte lehrt uns, daß
nicht wohl vorbereitete
Regelwerke ihre Grund-
pfeiler geschaffen haben,
sondern kraftvolle, bahn-
durchbrechende , zuin
Licht strebende Genies,
die unbewußt Großes
schufen, weil sie über
mehr Spiritus u. Phos-
phor verfügten, als an-
dere Sterbliche.

Obgleich ich an-
nehmen kann, daß der
Kern des goldenen
Schnittes noch von der
Schule her Jedem be-
kannt ist, will ich der

Vollständigkeit wegen Abbildung Nummer SH5. Vlaude

hier doch kurz darauf ^ Ittnsir, nur „Ssisct rninituru", Verlag van Timms L rvebb.

eingehen. „Der goldene - -

Schnitt" „schneidet" eine gegebene Linie proportional so, daß der größere
Theil — >i7ajor — sich zur ganzen Linie verhält wie der kleinere
Theil — Minor — zum Major. AL: Ad — cd : AL; als Zahlen-
verhältnitz ausgedrückt etwa wie 3 : 8 — 3 : 5. Diese goldene Theilung
ist durch mehrere Konstruktionen zu ermöglichen, von denen ich hier
die bekannteste anführe. Linie Ab soll proportional getheilt werden;
ich errichte in dem Punkte b «inen Perpendickel — Lothrechte — von
der gleichen Länge wie Ad und halbire diese Lothrechte; von diesem
Halbirungspunkt ck ziehe ich eine H^pothenuse nach Punkt A, nehme
äd in Zirkelöffnung und trage dieses Stück auf der Hypothenuse an
--cke; den Resttheil Le der Hypothenuse übertrage ich mittelst Zirkel-
schlag von A aus auf die große Kathete Ab (die gegebene Linie) und
erhalte so den gewünschten Theilpunkt c für die oben angegebene
Proportion. — Die Gelehrten und schriftstellernden Künstler haben sich
nun nicht damit begnügt, das Vorkommen des goldenen Schnittes an
den verschiedensten Naturgebilden: Mensch, Thier, Pflanze und Kristall

nachzuweisen, sie haben auch das Vorhandensein dieser „göttlichen Pro-
portion" auf Nkenschenwerk übertragen, so auf die Baukunst der Alten,
den dorischen Tempel, den gothischen Dom, den Renaissance-Palast, auf
die Werke der plastischen Kunst und die des Kunsthandwerkes. Das
vollendetste Produkt göttlicher Schöpfung, der Nkensch, soll nicht nur
in der Vertikalen seiner aufrechten Stellung die proportionale Theilung
der Linie, und zwar im Nabel resp. Endung der kurzen Rippen, son-
dern auch in allen seinen sonstigen Gliedern wie Arm und Bein, Hand
und Finger, Fuß und Zehen usw., abstufungsweise die verjüngte Pro-
portion besitzen. And
doch, wie manches
Schnippchen hat die
Natur diesem Gesetz
schon geschlagen. Nach
Darwin bildet sich jede
Kreatur so in dem
Kampf ums Dasein,
daß sie daseinsfähig ist;
jedes Glied trägt zuerst
seiner praktischen Auf-
gabe, seiner naturge-
mäßen Funktion Rech-
nung — und dann tritt
erst Proportion und
Schönheit als ange-
nehme Beigabe hinzu.
So werden wir bei durch
Kampf und Arbeit auf-
geriebenen Klassen und
Einzelindividuen theils
verkümmerte, theils
übermäßig entwickelte
Gliedmaßen finden, die
jeder göttlichen Propor-
tion spotten. Brehms
Thierleben und von
Rankes Werke über die
Menschenrassen werden
dies vollauf bestätigen.

Und wie hat sich
nun der Kulturmensch
selbst diesem Propor-
tionsgesetz gegenüber verhalten? Meistens recht unverständig und un-
vernünftig, wie uns die Geschichte des Kostüms lehrt. Ich brauche
nur, um neuere Beispiele herauszugreifen, an die hochgeschobene Taille
der Empire-Zeit, an die langen Taillen der Gehröcke und an unsere
taillenlosen, fipsigen Paletots, die kaum bis Nkitte Schenkel reichen, zu
erinnern. Eigenthümlich, solcher Dinge hat Niemand gedacht; meistens
hat man den goldenen Schnitt da nachzuweisen versucht, wo er dem
Auge überhaupt nicht zu Tage trat. Aber nicht genug damit, man
hat auch versucht, die göttliche Proportion auf Sprache, Dichtkunst,
Musik und andere Dinge zu übertragen, und ist behufs Erzielung irgend
welchen Resultats nicht vor gewagten Experimenten zurückgeschreckt.
Selbst wenn wir die goldene Nkitte von dem Für und Wider der strei-
^ tenden Parteien wählen, so ist doch das Ergebniß zu gering, um einen
Fingerzeig für die uns erhaltenen Kunstdenkmale zu finden. Das frag-
liche Rezept ist dem ausübenden Künstler nicht wegweisend genug, um
^ daraus für das unbefangene Auge Idealschöpfungen zu gestalten.

V-Ecktz für ein größeres Zimmer.
 
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