Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

DOI Heft:
Heft 2
DOI Artikel:
Spitteler, Carl: Kunstfrohn und Kunstgenuss
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0019

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

c^,

sD


2. Stück.

Lrscbeint

am fünften u. zwanzigsten

Derausgeber:

zferdinand Avenarius.

Kcstellprcis:
vierteljährlich 2 t/2 Mark.
Anzeigen: 3 gesp. Nonp.-Aeile csO ssf.

Zadrg.

t.

Ikunstkrokn und Ikunstgenuss

ist eine bemühende Beobachtung, sehen zu
E?^^^^müssen, wie Schulweisheit und Ratheder-
d^^AMgelehrtheit es dahin bringen, selbst dis
t^^W^süßesten Früchte mittelst philologischerBakterien
ungenießbar zu machen und Geschenke, die dazu er-
sehen sind, uns zu beglücken, in Buß' und Strafe um-
zusetzen. Die Runst ist großherzig und menschen-
freundlich wie die Schönheit, aus welcher sie sich auf-
baut. Sie ist der Trost der Menschen auf Lrden und
macht keine anderen Ansprüche, als innig zu erfreuen
und zu beseligen. 5ie verlangt auch keine Studien
uild vorbildungen, da sie sich unmittelbar durch die
Sinne an das Gemüth und die jDhantasie wendet, so
daß zu allen Zeiten die einfache jugendliche Tmpfäng-
lichkeit sich in ihrem Gebiete der Runst urteilsfähiger
erwiesen hat, als die eingehendste und gehäufteste
Gelehrsamkeit. So wenig man Blumen und Sonnen-
schein verstehen lernen muß, so wenig es Vorstudien
braucht, um eine Aussicht herrlich und ein Fräulein
schön zu stnden, so wenig ist es nötig, die Runst zu
studieren. Freilich bringt nicht Ieder gleichmäßige
Lmpfänglichkeit nach allen Seiten hin mit, denn die
Sinne, welche die Runsteindrücke vermitteln, sind in
verschiedenen Menschen in verschiedener Vollkommen-
heit und Richtung veranlagt. Doch habe ich noch
keinen Menschen von Geinüt und slchantasie (denn
Gemüt und s)hantasie sind die vorbedingungen, aber
auch die einzigen vorbedingungen des Runstgenusses)
gekannt, welcher nicht an irgend einem Teil der Runst-
welt echte unmittelbare Freude empfunden hätte. Und
darauf kommt es allein an. Ieder suche stch an dem
himmlischen Feft diefenige Speise aus, die seine Seele
entzückt und weide sich daran nach Herzenslust, so oft
und so viel er mag, im Ltillen und, wenn ihm das
Herz überläuft, mit gleichgesinnten Freunden. Das
ist Runstgenuß; das ist aber auch Runstverständnis.

wer sich aufrichtig und bescheiden im Stillen an einem
Runstwerke erfreut, der versteht dasselbe ebensowohl
und wahrscheinlich noch besser, als wer gelehrte vor-
träge darüber hält; wie denn auch ewig die Rünstler
selbst sich unmittelbar an das naive publikum wenden
und alle vormundschaft und gelehrte Zwischenträgsrei
zwischen Runstwerk und f)ublikum verabscheuen.

Tine Runstfrohn entfteht, sobald der Runstgenuß
als eine ssflicht aufgefaßt wird. <Ls ist so wenig die
j)flicht des Menschen, ^chönheit und Runst zu lieben,
als es eine pflicht ist, den Zucker süß und angenehm
zu finden. Die Runst ist vielmehr eine gütige Lr-
laubnis und eine menschenfreundliche Linladung, mehr
nicht; man kann es nehmen oder lassen. Glücklich,
wer ihr zu folgen und sie zu schätzen weiß; wer es
nicht verinag, den mögen wir bedauern, aber wir
haben kein Necht, ihn deshalb zu maßregeln oder gar
zu schelten. — Die Thatsache, daß die Runst veredelnd
wirkt (echte Rünstler und naive Runstliebhaber sind
stets gute Akenschen), legt nun allerdings den Gedanken
nahe, die Runst als Lrziehungsmittel zu verwerten,
nnd wer möchte der Zugend das höchste Geschenk der
Lrde vorenthalten? Zndessen darf dabei nie ver-
gessen werden, daß die veredelnde Rraft nicht im
IVissen über die Runst, sondern im Genusse der-
selben liegt, daß ferner Runstgenuß Vertiefung der
Leele in ein werk bedeutet, daß Vertiefung eine über-
sichtliche, reihenweise vorführung binnen kurzer Zeit
ausschließt, daß endlich der Schüler sich durchschnittlich
dem Lehrer an Runstverständnis, das heißt an Lm-
pfänglichkeit überlegen zeigen wird, weil er jünger
und begeisterungsfähiger ist, als der letztere. Über-
haupt ist es schon eine Verirrung, den Begriff Bild-
ung in den Runstgenuß herüberzuziehen; die Bildung
strebt naturgemäß nach umfassender, möglichst allseitiger
Renntnis der Gegenstände; die Runst dagegen ist so


(s
 
Annotationen