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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 5
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Reichenbach, Woldemar von: Kunst und Staat
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0057

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Lanöe erobert werdeil, auf denen der goldene Segen
des Rorns von selber erstehen wird, ist nur der
Samen auss jungsräuliche, auss sruchtbare Land ge-
sallen. Ls ist vieles, es ist hier mehr gethan worden,
als srühere Geschlechter ahnen konnten; es bleibt
dennoch vieles, vieles noch zu thun. Möge der
Staat nie vergessen, daß er zum wohle des Ganzen
wirkt, was er zum wohle seines wichtigen Teiles
wirkt, nie, daß auch im Organismus eines Volkes

das Blut durch alle Adern kreist, nie, daß ein fauler
Sast von einem kranken Gliede ansteckend überströmt
aus die gesunden! wo aber die Gesamtheit als
solche noch nicht handelt, vielleicht weil sie noch nicht
handeln kann, da wollen wir, „die wenigen, die was
davon erkannt", vorbereitend und anregend weiter-
wirken, wie im Besonderen hier thätig zu sein, die
schönste und dankbarste Aufgabe auch des „Runst-
warts" ist. wold. Graf Reichenbach.

Ikundscbau.

Guswv Meodor Fecdner ch.

Schon welsten die ersten kserbstesschauer übers Land, als sich
über liischcrs Grabe die Lrde schloß, und noch ist es nicht
voller lVinter gcworden, da Fechner zum ewigen Schlase ge-
bettet wird. wahrlich, die lVissenschaft des Schönen hat Ver-
luste erlitten in diesem Iahr, wie vielleicht in keinem einzigen
srüheren!

Mehr denn sechsundachzig Iahre hat Fechner gelebt. Füns-
undsiebenzig waren aus seinen Scheitel gehäust, als er, der aus
anderen Gebieten des lVissens längst eines lveltrufs genoß,
sein grundbereitendes lVerk über die lVissenschaft des Schönen,
seine „Vorschule der Ästhetik" herausgab. !Ver die stolzen
Bauten der älteren Schönheitslehre kennt, die nur leider selber
mehr lVcrke der Runst sind, als lVerke dcr lVissenschast, der sühlt
sich von Fechners lVerk zunächst sast besreindet und jedensalls
ernüchtert. Ist es ihm aber klar geworden, sür welchen Ge-
bäudes Fundament hier in nmhsam Schritt sür Schritt vor-
schreitender, Stück sür Stück herbeifördernder Arbeit teils die
Steine gesammelt, teils der Boden gegraben wird, so zweifelt
er nicht mehr, daß hier die Zukunst baut.

Der „Ästhetik von Gben" gegenüber, die von allgemeinen
Ideen und Begrisfen, von „Gott", „Schönheit", „lVahrheit"
u. s. w., hinabsteigt zum Ginzelnen, betonte Fechner die Not-
wendigkeit einer „Ästhetik von llnten", die vom sesten Grund
emporsteigt. Mit lsilse der Grsahrungswissenschasten eins neue
Lrsahrungswissenschaft vorzubereiten, war seine Aufgabe. llnd
mit vorsichtigster Prüsung seiner eigenen Gedanken, mit skex-
tischem lllißtrauen gegen seine eigenen 5ätze, deren Schwächen
zu entdecken und aus ihre Bedeutsamkeit zu prüsen er nimmer
müde ward, mit einer jlhrasenlosigkeit, die wie der Tag von
der Nacht absticht von dem, was in der Ästhetik zumeist üblich
war — ersorschte Fechner die ersten Gesetze einer empirischen
Ästhetik.

Als Vischer alterte — ein lllann, der nicht nur in seinem
nie rastenden Forschungstriebe und seiner bleibenden Geistes-
srische tiefinnere Verwandtschast mit Fechner zeigt, so ver-
schieden die 5chasfensart der Beiden war — als Vischer alterte,
gab er selber das 5ystem seiner Ästhetik preis. Fechner
dachte seines ästhetischen lVerks mit der Ruhe des lllannes,
dem die Anerkennung nichts besorgt Lrwartetes ist, weil er
weiß: die Zeit muß sie bringen. 5eine „Vorschule", eines
der herrlichsten Bücher unserer gesamten Litteratur, ist zu-
nächst wenig verstanden und gewürdigt worden. Noch kurz
vor seinem Tode schrieb ihr Versasser dem lherausgeber des
„Runstwarts" darüber, daß seine Richtung „doch noch gar nicht
einleuchten" wolle. lVäre nicht alle Rrast des immer noch
arbeitenden, dabei körperlich schwachen und halbblinden Greises
auf die Beendigung eines nun doch nicht beendeten lVerks
aus anderem Denkgebiete gerichtet gewesen: er hätte sehen
müssen, wie gerade in der letzten Zeit die grünen Spitzen
über dem Acker häufiger wurden, den er urbar gemacht. Trügen
die Vorzeichen nicht, so gehen wir einer neuen Arbeitsxeriode
der Ästhetik entgegen. Dann wird das Aorn erntereis werden,
das Fechner gesät hat.

Diebtun§.

Denrik Absens „Adeale Zforderung" wird von
Bulle (Gegenw. H5), als lllittelpunkt der Ibsenschen lVelt-
spiegelung gleichwie als Aern seiner Lebensarbeit behandelt :
und den Zeitgenossen als einzig realer llntergrund sür den
Aufbau des Lebensgebäudes und des lVeltwerks bezeichnet.

In seinem Schauspiel „die lVildente" läßt Ibsen den Träger
jenes sittlichen Prinzips aus den spöttischen Einwurs, „ob er
inzwischen denn nicht so klug geworden sei, etwas von dem
Betrage dieser sittlichen Forderung abzulassen", die entschlossene
Antwort ertcilen: „Niemals, wenn ich vor einem wirklichen,
echten lllenschen stehe!" „Als ich diese Stelle las," sagt Bulle,
„vermeinte ich den Inhalt aller jener tiesen, nns so gewaltig
durchwühlenden Dichtungen Ibsens in wenige lVorte zu-
sammendrängt vor mir zu haben. Dieses ,Niemalsll, diese
unerbittliche Strenge in den Ansprüchen an das menschliche
lVesen, die sich weder durch die Sitte und Gewohnheit, noch
durch die vermeiutlichen religiösen oder gesellschaftlichen Forder-
ungen etwas abseilschen läßt, und auf der anderen 5eite
wieder jenes trostlose ,wenn°, jener lhinweis aus die wenigen
,echten, wirklichen lllenschenh aus die überwältigende Flut der
Vcrzerrnngen des wahren lllenschenbildes: das, in der saßbaren
Gestalt kleincr gesellschaftlicher Greignisse ausgedrückt, ist der
Inhalt der Ibsenschen Dramen." Dieselbe „ideale Forderung"
deckt sich z. B. auch mit der hohen Ausgabe, die in „Ros-
mersholm" der jdastor Rosmer sich stellt: „alle lllenschen im
Lande zu Adelsmenschen zu machen", „ich will nur ver- ^
suchen, sie anzuspornen, vollbringen müssen sie es selbst,
denn die lllenschen lassen sich nicht von außen her adeln."
Ibsen will somit nach Bulle hier wie überall anregen zum
Nachdenken, ohne mit ausdringlichem lsochmut schon Linzeln-
heiten und bestimmte Forderungen einer besseren lVeltordnung
prcdigen zu wollen. Gleichwohl „bleibt ihm jene Forderung
unverrückbar, ein unvergängliches ,5olll, von dem aus keine
lVeise Abschreibungen oder Abseilschungen gemacht werden
dürsen, mag dem auch erst in Iahrhunderten oder Iahrtausenden
oder gar niemals ein gleichwertiges ,l)abent von der ,wirklichen,
echten lllenschheit' gegenüber gestellt werden können." „Es
ist ein einziges lVort, durch das Ibsens ,ideale Forderungen'
ganz und mit allen ihren Folgen ausgedrückt wird, das lVort:
lVahrheit! Ihr entspringt Alles, was der Dichter als not-
wendige Güter und Bedürsnisse sür die lllenschheit, als allein
Trstrebenswertes hinstellt, aus ihr erst stießt der Adel und die
Ireiheit des menschlichen lVesens, stießt auch die ,Ireude,
welche die Sinne adelt' und die .stille, srohe Schuldlosigkeith
die Rosmer ersehnt." ,,llm die lvahrheit srei leuchten zu
lassen, zertrümmert er die lVahrheiten." Denn ,,es giebt
lVahrheiten," äußert sich eine andre Ibsensche Gestalt, ,,die
so hoch zu Iahren gekommen, daß sie sich bereits abgelebt
haben. Ist jedoch eine lVahrheit so alt geworden, so ist sie
aus dem besten lVege, eine Lüge zu werden. llnd dennoch
macht sich erst dann die lllehrheit mit ihnen zu schasfen und
emxfiehlt sie der lllenschheit als gesunde geistige Nahrung."
,,Deshalb formuliert er seine ,ideale Forderung' überhauxt nicht

(s

s)

sr —
 
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