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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 11
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Paidagogos: Unser litterarisches Publikum
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0145

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hören wir reden, wie wir selber reden, da begreifen
wir, wovon der verfasser spricht, da sühlen wir uns
endlich „unter uns".

Aber wir siehen dem Neuen vollständia kritiklos
gegenüber. U)ir Muli und Füchse sind wanderern
gleich, die nach Staub und Hitze der Lhausseen und
lauwannein schalen Bier der Landstraßenkneipen plötz-
lich zur Seite einen sungen Bach erblicken. Lsei, wie
das kBasser schineckt — sollen wir erst viel untersnchen, ob
nicht etwa Insnsorien oder schädliche cheinische Sub-
stanzen darinnen seien? wollten wir's auch,
wir könnten's doch nicht — wir habens eben nicht
gelernt, wie der „Fachinann", der solche Fälschung der
Neiicheit vielleicht schon aus den ersten Bliek erkennt.
Wir trinken also, trinken, trinken und künunern uns
nicht uin die Lolgen sür unsere Gesundheit.

Ganz wie der Lx-Schüler trinkt, trinkt und trinkt,
hat er überhaupt uoch Durst iin Leibe. Den besseren
ist die Litteratur ein Mittel zur Besriedigung ihres
wissens drangs, den schlechtern eines zur Tötung
der Langeweile, zuin „Ainüseinent" geworden. Die
wenigen Glücklichen höchstens, die entweder tapser die
^tunden schwänzten, oder denen Akutter Natur ein so
dickmächtiges Fell übcr den Buckel zog, daß auch die
fleißigst wiedeicholte s)ufferteilung eine Lrweichnng
desselben nicht bewirken konnte — diese wenigen Glück-
lichen höchstens behielten eine Ahnung davon, daß
alles stoffliche Interesse den höchsten und reinsten Ge-
nuß überhaupt uicht gewährt: den eigentlich künst-
lerischen, den am Nachschafsen der Gebilde des
Dichters durch des Genießenden s)hantasie. Ihn er-
reichbar zu machen, der uns auf Stunden alle wonnen
des Schaffens nachfühlen läßt in der eigenen Brust,
ihn, den nur gekostet zu haben braucht, wer sich frei
über den Zwang der Tageskleinlichkeit erhebcn will
— hat die Schule nichts gethan, aber tausenderlei,
den Weg zu ihm zu versperren.

So sieht's aus. Und um kein bsaar besser, als
die U'länner, sind die Frauen daran. Wär' es anders,
unsre wirklich gelesene Litteratur baute sich auch
auf andern Lundamenten auf, als auf den Grund-
und Lcksteinen unsrer Leihbibliotheken, und höchstens

als Vogelschcuchen noch würden die j?nppen so vieler
unsrer „ersten Autoren" auf dem deutschen ^arnasse
herumstehen, die jetzt selbst unsre „Gebildeten" sür
Atenschenbilder halten. Die Lserkömmlichkeit finden
wir in ihnen wieder, die kferkömmlichkeit, die wir aller-
orten sehen, und hinter der wir die wahrheit nicht
erkennen können, denn aus dem Schein aus die Sache
zu schließen, braucht's ebeu der jDhantasie. Und kommt
dann ein echter Dichter, der uns das Wesen zu er-
kennen lehren will, und nicht den ^chein zu begaffen:
so gucken wir ihm nach, wie die Ruh dem Adler, der
auswärts steigt, können natürlich nur sehen, was wir
hier unten sehen, nicht was er droben sieht — und
es würde dem Adler, spräch' er auch kühisch, voll-
ständig unmöglich sein, der Auh überhaupt begreiflich
zu machen, was seine Nundschau Alles umfaßt. Gder:
das jAiblikum kanu den Dichter nicht verstehen, weil
seine j)hantasie ein ans Nächste gebanntes Ding, nicht
mit kräftigen Flügeln, sondern nur mit Flügelrudimen-
ten ist, weil es nur das Banale und Brutale sehen
kann, das ihm gezeigt wird, nicht das, was des Dichters
Auge hiuter, neben und über Allem sieht und zeigt,
aber nur dem Nlenschen von j?hantasie zeigt — und
es spricht einem genialen Drama gegenüber von „Nlach-
werk" und unterhält sich bei jAattheiten, die jedem
Nlännlein und Fräulein von nur eiuiger s)hantasie
nur als Gaben kläglichen ^tumpfsinnes erscheinen
würden.

Das Spiel von Angebot und Nachfrage fehlt auf
dem Gebiete der Litteratur natürlich so wenig, wie
anderswo. Unsere wahren Dichter verhungern, oder
— der häufigere Fall - versauern und schmieren
endlich des lieben Brotes wegen, wie es die Leute
wollen: nicht mehr „Nkachwerke"— denn wer läse
die, oder führte sie öfter als einmal auf — soudern
lauter „Nkeisterwerke", von denen ja laut Zeugniß
unserer Tagesblattrezensenten alle Iahre zum Nün-
desten ein Dutzend erscheinen, eines meisterhafter als
das andere. . .

Beklagt Ihr Luch über die Lage der Dinge, so
vergeßt die Iugend nicht, wollt Zhr bessern!

lkmidagogos.

Ikundscbau.


Nllgemeineres.

» Nrtbur Lcbopenbauers hundertsten Geburtstag,
dessen am 22. Februar die gebildete Welt gedachte,
darf auch ein Blatt, wie das unsere nicht unbeachtet
lassen. Wer sich's zur Aufgabe gestellt, das Leben
der Runst nicht nur als eine Sammlung von Schau-
stücken zu betrachten, die unsre Augen und Ohren er-
freuen, sondern als Offenbarung des Tmpfindens einer
Zeit — der soll auch der Ouellen gedenken, aus denen
mgchtige Tinflüsse einströmen in dieses Lmpfinden.

Soweit sie dieses berührt, angeregt oder bestimmt
haben, gehen uns auch ^chopenhauers Gedanken hier
an, nicht als Sätze des abstrakten Denkens an und
für sich. Die Stellung des Schopenhauerschen meta-
physischen Systems in der wissenschaftlichen j)hilosophie
unserer Tage zu untersuchen, ist nicht Aufgabe unseres

Blattes. Dürfen wir doch kaum unsere persönliche
Nkeinung andeuten, nach welcher ihre Bedeutung ab-
zusterben scheint — vielleicht sogar vor einer j)hilo-
sophie, die, ohne dem Nkaterialismus auheimzufallen,
gegnerisch gegenübersteht jeder Nketaphysik. Ls ist
zudem nur eine kleine Gemeinde, die Schopenhauers
Gedankenbau überhaupt als eine Linheit kennen ge-
lernt hat. Line kleine wenigstens im Vergleich mit
der großen, die den Namen des düsteren jDhilosophen
im Nkunde zu führen pflegt mit Beiwörtern der Liebe
oder des kfasses, und so beweist, daß die Schopen-
hauerschen Gedankenkreise für sie Neimstätten weit
mehr des Fühlens als des Denkens sind.

Von der Gestalt jedes bedeutenden Nkannes stellt
sich die Nkenge Zerrbilder auf den Nkarkt, denen sie
opfert oder j)amphlete anklebt, je nachdem — wie

— I3S
 
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