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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 11
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0146

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sollte Schopenhauer von diesem Schicksal verschont ge-
blieben sein! wie ein Teil der Lsalbgebildeten bei
uns etwa beim Namen Zola's nur an einen „Schmutz-
Schriststeller" denkt, ein andrer an einen Zukunfts-
bseiland, wie der Slave beim Namen Schillers an
einen sentimentalen Schwärmer, der deutsche Spieß-
bürger nur an einen pathetischen Freiheitssänger, so
zeigt sich Schopenhauers Bild der Nlenge hier als
das eines bissigen LVeiber- und j)rofessorenfeinds, dort
als das der wahrhaftigen Lleischwerdung des s>s-
simismus. Zn dieser Doppelgestalt ist denn Schopen-
hauer auch in die Bilode gekommen.

Unsere Nomanlitteratur der vergangenen Zahr-
zehnte spiegelte diese Niode, nicht etwa als „Stoff",
als dichterischen vorwurf, sondern mitten in ihr sußend
und ihre Stimmungen teilend. Dem Mangel an Be-
friedigung und der inneren Zerrissenheit kam ja die
Anschauungsweise vortrefflich entgegen, die gerade aus
den am allgemeinsten verständlichen Hchriften dieses
Mannes hervorwehte. Zudem war ein wenig zu scho-
penhauern effektvoll, weil „interessant" und billig zu-
gleich, und that auch trefflich der Litelkeit genug, die
ja der Mittelmäßigkeit ein gleich wichtiges kebensele-
ment ist, wie der Tüchtigkeit der Stolz.

Hüten wir uns aber vor der Ungerechtigkeit, Schopen-
hauers Liufluß auf unsere Zeit nach dem Gebahren
solcher populären Spielart des j)essimismus abzuschätzen.
Außer ihren Anhängern und außer den Nlännern abs-
trakter wissenschaft, die als Baumeister wirken an
den Bauten der j)hilosophie, lesen noch der ernsten,
tiefen und denkenden Niänner genug aus den werken
des Toten Früchte und ^aatkörner auf. Lrst in diesen
Tagen ward wieder eindringlich darauf hingewiesen,
wie bedeutungsvoll Schopenhauer als Satiriker ge-
wirkt. Vielleicht ging rnan zu weit, wenn man eine
ganze Litteratur mit erfreulichen und nicht erfreulichen
Büchern, die vielgelesenen Nordaus zum Beispiel, nur
als verwässerungen der klassischen Satiren aus den
„parerga und j)aralipomena" bezeichnete. Zur ver-
breitung einer gesunden Skepsis gar mancher j?errük-
kengröße gegenüber hat Schopenhauer doch unzweifel-
haft viel beigetragen. Die Rolosse von Thon werden
unter seinen und seiner Gesolgschaft Lsieben Sprünge
bekommen bis sie brechen; die Rolosse von Trz werden
stehen bleiben, nur klingend im Rlange des reinen
Metalls — wir haben solche prüfung auf wahrheit
wahrlich mit Nichten zu fürchten. Und uns zu freuen
haben wir auch der wohlthätigen wirkung der Schopen-
hauerschen Sprache, die zeigte, daß unser herrliches
Deutsch jeder Aufgabe auch der Wissenschaft gewachsen
war, in der bis dahin nur ein Uauderwelsch geherrscht
hatte.

Schließlich darf der Linfluß des Denkers aufeine eigene
Gruppe von Männern nicht vergessen werden, die nnt
ihm und ihrem „Meister" in der Nlusik die Röuigin der
Rünste sehen, nicht aber ihre Thätigkeit auf die Musik
und ihre Nachbargebiete beschränken. Ls sind vor
allen andern ethifche Zdeen, die sie aus Schopen-
hauer schöpften und in ehrlichem Bemühen in leben-
dige kVirksamkeit umzusetzen streben. N7an mag ihre
Ansichten teilen oder nicht, ihnen als Feind gegenüber
oder als Freund zur Seite stehen: man wird den
tiefen Grnst der weltanschauung des Nlitleidens, die
sie predigen, in seiner hohen Bedeutsamkeit gerade für

unsere Zeit nicht verkennen dürfen. Nnd man wird,
was immer von Rleinlicbem an ihm haftete, was
immer von Irrtümlichem seine Lehren trüben oder
das System seiner j)hilosophie untergraben mag, was
immer von Unlauterem und Unfertigem zu seiner Fahne
trat, als sei es die eigene — nicht ohne Lhrerbietung
des Mannes gedenken können, der diese Neligion des
Nlitleidens auch den nicht christlich Gesonnenen ein-
dringlich als den U)eg zur Trlösung vom Leiden der
Ureatur verkündete.

Dtcbtung.

* Adolpb Zfreps „Gedichte" (Leipzig, Lsässel).
— Die gebührende U)ürdigung einer neuen und be-
deutenden Grscheinung ersordert sür Zeden, der nicht
durch zufällige Geistes- und Sinnesverwandtschaft vor-
bereitet ist, eine gewisse Zeit. Das Befremdende will
erst überwunden sein, an die Ligentümlichkeiten muß
man sich gewöhnen, und der U)ert von Gedichten,
welche sich nicht durch Nlang einschmeicheln, hat sich
vor der Lrinnerung durch Unwillkürlichkeit und Nach-
haltigkeit zu erproben. Unmittelbar nach dem Lr-
scheinen des Buches (im Zahre t886) äußerte sich die
schweizerische Rritik einmütig dahin, daß dem verfasser
Auszeichnung unter den heimischen tyrikern zukomme.
Ueller und Uleyer erkannten in privaten, aber keines-
wegs zurückhaltenden Aussprüchen diesen Zünger als
echt an; der litterarische keiter des „Bunds" mit
seinem ebenso feinen als weitherzigen Urteil begrüßte
Freys Gedichte mit der größten U)ärme: der Linzige,
der damals einige Vorbehalte formulierte, war der-
selbe, der heute diese Lmpfehlung schreibt. Mittler-
weile hat sich mir nämlich der hohe U)ert jener Ge-
dichte durch die Lrfahrung bestätigt. Lrfahrung nenne
ich's hier, daß Linem das Gelesene nicht aus dem Ge-
dächtnis schwindet, daß einzelne Ltücke Linem fort-
während in der Seele leuchten, daß man sich in der
Lrinnerung immer mehr und mehr mit den Ligen-
tümlichkeiten befreundet. Zch bin überzeugt, daß es
jedem teser ähnlich ergehen wird, wie mir. welche
Bedenken man auch ursprünglich hegen mochte, kommt
man auf das Buch zurück, so thut die jDräzision des
sprachlichen Ausdrucks und der poetischen Bilder ihre
U)irkung. Za, die herbe, ungeschminkte U)ahrheit
wird einem schließlich so teuer, daß man bald die
übliche Glätte nicht blos nicht vermißt, sondern kaum
mehr ertragen würde. Ulit einem U)ort: es weht
von jenem Geist in den Blättern, welchen Deutschland
an Nellers und Meyers Lyrik hochschätzt. wie un-
bequem es nun auch sein mag, neben bekannten Namen
neue hinzuzulernen, und wie sehr eine solche Notwen-
digkeit der Gewohnheit dilettantischen Nühmens wider-
strebt, der Gewohnheit, Alle zu berauben, um Linen
zu schmücken, so gebührt schließlich jedem verdienst
seine Lhre, und das Vergnügen an Freys Gedichten
kann geradezu als j)rüfstein für die Lchtheit der Be-
geisterung an Aellers und Uleyers verwandter Ligen-
art gelten.

An dieser Ltelle eine Analyse oder auch nur eine
Übersicht zu geben, geht nicht an; der Znhalt ist zu
reich und zu vielseitig, um mit Andeutungen fürlieb
zu nehmen. Allein für sich der erste Abschnitt („Ge-
sichte"), obgleich er kaum mehr als den zwanzigsten
Teil ausmacht, würde eine förmliche Abhandlung be-

o)

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