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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 11
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Paidagogos: Unser litterarisches Publikum
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0143

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sS

u. Stück.

Lcscbcint

nm fünfkeii u. zwanzigsten

Derausgeber:

Ferdjnand AvenarLns.

Kcskcllpreis:
Viert»ljährlich 21'» Mark.

Zakrg. t

Älnser litterarisckes Dublikum.

^ell -— ist das ilicht das Stück, wo aus
^/Obst aeschossen wird?"

?sch weiß nicht, wie es kam, daß mir
ileulich diese klassische Frage aus deu
„Fliegenden" gar nicht aus dem Ropfe wollte. Ich
hatte die Rezension der Lrstaufführuilg eines bedeu-
tenden ^-chauspiels gelesen. „<Ls ist ein erfreuliches
Zeichen", so schloß der Amlstrichter, „daß das gesuilde
Urteil unseres publikums dergleichen Rtachwerke ent-
schieden ablehnt".

Und nun stieg es würdevoll und ernsthaft vor
meinem geistigen Auge auf, das Publikum mit dem
gesunden Urteil, wie es bedeutungsvoll und miß-
billigend das bsaupt schüttelte und mit entrüsteter
Handbewegung jenes „Utachwerk" von sich wies.
Dann teilte sichs wieder in eine Utenge von vielen
Uöpfen, und deutlich konnte ich einzelne L-timmen
unterscheiden. „Die Dichtung ist nicht dazu da, aller-
hand schliinine Uonflikte oder sonstige Uätsel des
Utenschenlebens zu erörtern: sie soll uns über das
Leben emportragen". „Zm Theater will ich nicht
iiachdenken, sondern mich erholen". „Zch gehe eigent-
lich überhaupt nicht in Trauerspiele — das teben
ist ohnehin traurig genug". „Da sind unsre Ulassiker
doch was ganz Andres!" „Za, aber — wenn ich
einmal im vertrauen ketzerisch sein darf: diese Unnatur,
daß ihre personen immer in versen sprechen!" „Und
dann kennt man sie doch von der chchule her aus-
wendig". U. s. w., u. s. w.

U)ie kommst du denn eigentlich zu chtande, du
liebes s)ublikum mit deinem gesunden Urteil?

Als ich mich das fragte, trat mir ein andres Bild
vor die Seele. Uleine unverständige Utenschlein sah
ich auf Uinderstühlcheu zu Füßen der Großmutter
sitzen, sah große glänzende Augen leuchten beim An-
hören traulich süßer Utärchen, sah sie einsaugen alle

die j)racht der Zauberwelt, hörte ihre staunenden 2lh!
und Mh!, sah ihre Thränen, ging es den Lselden
schlecht und hörte ihr Zauchzen, wandte sich's am
Lnde zum Guten. U)ie Alles, was ihnen erzählt
ward, neu auflebte in ihnen, daß sie selber mit Allem
lebten!

Und wieder löste ein Bild das andere ab. Zch
sah dieselben Menschen, größer geworden', auf den
langen Bänken der gelehrten Schulen sitzen, wo sie
nun eingeführt werden sollten auch in die Tiefen der
litterarischen Trkenntnis. „Denn obwohl wir nur
flüchtige Neisende sind durch diese sich ewig ver-
ändernde U)elt, so wollen wir sie doch kennen lernen,
so gut das angeht, — und wir lernen sie selber mit
tausend Augen sehen und genießen, wenn wir mit
den ^chätzen unseres Hchrifttums die Erkenntnisfrüchte
von tausend anderen Utenschenleben genossen haben.
Groß thut sich ja Alles vor uns auf, führen uns die
Geister der Großen". So haben edle und weise
Utänner vielleicht gedacht, als sie in den Unterrichts-
plan für unsere höheren Schulen auch die Linführung
in unser deutsches Schrifttum aufnahmen. Aber wie
seltsam stutzte man am grünen Tisch solche Zdeale
zu! was wird unter der Ltikette „kitteraturgeschichte"
den dürstenden sechszehnjährigen Seelen verzapft!
Utuspilli und Hildebrandlied, ^eliand und U)essobrunner
Gebet, Nibelungen und Gudrun, s)arzival und Titurel
— ja, was sollen sie eigentlich damit anfangen, die
Zungen? U)o Zene schön nnd tief sind, können sie
doch ihre Schönheit und Tiefe wahrlich noch nicht
verstehen! Abgesehen davon, daß der tehrer ein
seltener und unter den andersbefiederten Rollegen
vielleicht kaum gern gesehener vogel wäre, der seinen
Schülern überhaupt was von Schönheit vorzwitscherte,
statt ihnen zur Atzung nur allerhand philologische und
litterargeschichtliche würmer aus den versen heraus-



Z


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