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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 3
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Avenarius, Ferdinand: Bildung
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0032

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! danken, die wir uns dadurch zu dienstbaren Geistern
für uns selber machen und beschwören können, wann
wir sie brauchen. wissen ist Näbrstoff sür die hungernde
Seele.

Aber Nahrung eingeben heißt noch nicht Nähren.
Der Rörper nährt sich, der das Ausgenonunene ver-
arbeitet zur Grgänzung seiner selber. Vorbedingung
dafür sind gute, kräftige Organe. vergessen wir's
nie, daß ein Leib rnit schwächlichem, schlechten Magen
zu Grunde gehen kann auch bei der schönsten Aost!
chorgen wir nur sürs wissen, ohne die Bildung
! unserer Organe voll zu bedenken, so gleichen wir
Ginem, der seinem Pslegling Speisen vorsetzt, ohne
Nücksicht darauf, ob er sie verdauen kann oder nicht.

Tvie steht es nun heute?

Aenntnisse und immer wieder Aenntnisse senken
uns unsere 5chulen ein. Aenntnisse dem Verstande
und selbst in der großen Groberung unserer Zeit, dem
segensreichen Anschauungsuntericht, dennoch zumeist
nur Gedächnisbereicherung, nur Aenntnisse also, der
s)hantasie, denn viel Anderes vermitteln selten sertig
vors Auge gestellte körperliche Bilder. Das Streben,
die Sinne, durch Schulung, zu scharsem Beobachten;
den verstand, durch Schulung, zu scharfem Lrfassen, —
zur Lrzeugung von Renntnissen, die j?hantasie, durch
Übung — zum Lrzeugen von Bildern zu tüchtigen,
ist sicher bei sedem guten j)ädagogen vorhanden, vom
Geiste der Zeit aber zurückgedrängt hinter das andere,
fertige Aenntnisse und Bilder zu geben. Gilt doch
in der „feinen Gesellschaft" schlechtweg der Renntnis-
reiche für den Gebildeten. Nnd doch ist selbst der
Gelehrte, der, ein hoch nützlicher Arbeiter der lvissen-
schaft, sein Forschungsgebiet aufs Genauste kennt und
vielleicht eines weltruhms genießen mag, deshalb
noch kein Gebildeter. Za: an Bildung steht er
hinter dem Bauern zurück, der einem fremden Denk-
xrozeß etwa schneller zu solgen, ein fremdes Lm-
xfinden schneller mitzufühlen, eine fremde An-
! schauung schneller nachzubilden vsrmöchte, als er.

Die Lolgen jener Verschiebung der Begriffe und
der vernachlässigung der Bildung zu Gunsten des
alleinseligmachenden wissens zeigeir sich denn auch
überall. wir lehren die Schüler, die Sxrache der
Griechen zu verstehen: was aber das Griechentum
zur Leuchte für Zahrtausende machte, eben die voll-
endete Bildung der Griechen, kümmert uns wenig
anders, denn als „ein jDroblema"—wir pflegen das
Wissen von jenen Alten, ohne viel darnach zu trachten,
unsere LVelt auf verwandte Art in uns zu verar-
beiten, wie sie die ihre. Line andere Folge, die viel
zu denken giebt, ist der Nückgang in der Duldsam-
keit unserer Gesellschast. Zch spreche nicht von der
religiösen und volkswirtschaftlichen, thöricht genug, etwa
unsern Antisemitismus oder derartiges mit dem Be-
sxrochenen in Zusammenhang bringen zu wollen. Zch
sxreche überhaupt nicht von der Unduldsamkeit der
That, von dem rücksichtslosen Uamxfe ums Dasein
unserer Zeit, der vielleicht durchaus nicht ihr Schlech-
testes ist. Zch spreche von der Unduldsamkeit des G e-
dankens. Verlernen wir nicht mehr und mehr,
mit unbefangenem Auge den als Nkenschen zu be-
trachten, der als j)arteimann unser Gegner ist; sprechen
nicht unsere UMiner der IVissenschaft (und insbesondere
die jungen) mehr und mehr als von Narren von

denen, die anderer Meinung sind, als sie? Das
müßte anders sein, wären unser Lmpfinden, unser
Denken, unsere phantasie, (die uns in die fremde
Seele versetzen sollte) gebildeter, d. h. leistungs-
und anpassungsfähiger.

Bleiben wir aber beim Gebiete unseres „Aunst-
warts," beim „Neiche des Schönen", welches ein Neich
ist der flchantasie. Die zeitgenössische Durchschnitts-
kritik, die denn doch immerhin im Aieisten ein Spiegel-
bild der Nkeinung weiterer Nreise bietet, giebt einen
schlagenden Beweis für die Unbildung ihrer flchantasie.
Äe hat verlernt, eine kennzeichnende, dem Dinge ent-
wachsene Lormgebung von sachfremder, uncharak-
teristischer Scheinform zu unterscheiden: sie pflegt die
flchrase. Doch weiter! Gs ist von Unglücksraben
schon oft beschrieen worden, daß die feinern Genüsse
fortdauernd in der volksgunst sinken. Zene feineren,
künstlerischen Genüsse, es sind nun jene, zu deren
Lmpfängnis j)hantasie gehört, j?hantasie, das arme
Aschenbrödel unserer Schulen. Freilich: die Angehörigen
unserer „höheren Stände" gehen noch ins Theater,
lesen noch Bücher, kaufen noch dann und wann,
können sie's, von Gemälden, was berühmt ist. Sie
haben deshalb doch nur wenige Böhnchen von Uunst-
sinn mehr in ihrer Niühle, als die „niederen." Denn
was sie ansehen, lesen oder kaufen, zeigt nur die
äußern Trscheinungsformen des Uunstwerks, an denen
man aus anerzogener Gewohnheit hängt. Znnerlich
hat es nichts mit der Uunst zu thun. Gder sind
ihre Lchrnpelmannstücke noch Lustspiele, ihre Ulittags-
schläfchenromane noch Dichtungen, ihre Ukodebilder
noch Schöxfungen der Uunst? Ukan spottet mit
Necht über die Zeit der ästbetischen Thees und
dennoch vermocbte damals ein Zean j)aul in
die Ukode zu kommen. U)ie weniger Leser jDhantasie
könnte heute einem Dichterfluge noch folgen, der
unsere Nienschen so von oben herab besähe, wie er
die seinen? Ukan spreche uns nicht von Böcklin
und von Neller, die übrigens lange genug im
Dunkel geweilt, eh sie die Sonne der volksgunst be-
schien! Teils ist es das Barocke an solchen Geistern,
was gefällt, weil es die stärksten und immer neue
Reizungen erzeugt, teils schwört man den Autoritäten
nach, welche die Sache ja wissen müssen. „wissen"
müssen — kennzeichnendes wort! kVahrhafter künst-
leriscber Genuß ist kein Aufnehmen, sondern ein
Nachschaffen des Geistes: wie aus der eigenen
Seele scheint dem Genießenden die IVelt des Nünstlers
emporzusteigen, dessen Geist ihm zu seinem eigenen
geworden däucht. Und glaubt man im Trnst, daß
Böcklins oder Nellers Schöpfungen von der Ukehrzahl
der Neller- und Böcklinschwärmer als von seelisch
Nachschaffenden genossen würden? U)is wär' es
dann möglich, daß wir vor ihren U)erken Redens-
arten wie „reizend", „famos" und alle jene andern
abgegriffenen Sprachscheidemünzen ausgezahlt bekämen,
die aus keinem Nopfe kommen können, dessen j)hantasie
lebendig erregt ist. Denn solch einer prägt sich seine
Ukünzen selbst.

U)ir sprachen vorhin vom Faust. Nun ist es
lustig zu sehen, wie unser j)ublikum lacht, wenn es den
U)agner auf der Bühne sieht. Dopxelt lustig, weil
es seiner selbst spottet und weiß nicht wie. Denn es
scheint fast, als habe Goethe eben im U)agner unsre
 
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