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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 3
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0034

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recht geworden, diesen von tieffter Menschenliebe dnrchglnhten
Gestaltnngen eines Mannes, der seitab schafft von den IVegen
der Alltäglichen, der belauscht den Gewordenen hier in seinem
werden. Seine „Beiden Genossen" sind ein herbes, aber ein
kraftvolles Buch. A.

» Selbstanzeige: Dte naturwissenscbaMicben
Grundlngcn der Docsic. prolegomena einer realistischen
Ästhetik von wilhelm Bölsche (Lechzig, Rarl Reißners
Verlag, ^887.) — Die unmittelbare veranlassung zur Ber-
öffentlichung dieses Buches, das in seiner axhoristischen Form
lediglich das j)rogramm einer Ästhetik, nicht diese selbst, zu
geben im stande ist, bot mir die gefährliche vermischung des
realistischen j)rinzips in unserer modernen Litteratur mit mehr
oder minder unlauteren Llementen, die ihrer Lntstehung und
Zlusbildung nach auch nicht das Mindeste mit dcmselben zu
schaffen haben. Im Gegensatz zu der tollen Behauxtung,
daß „Realismus" so viel bedeute wie wüstes Überschämnen
roher Leidenschast, sinnloses bservordrängen des Unanständigen
in der Dichtung, hielt ich es vielmehr sür angebracht, den ein-
sachen Satz, den sür die Gegenwart in erster Linie Zola be-
tont hat: daß die realistische Bewegung vor allem Anschluß
der Poesie an die so eminent vorwärts entwickelte Ratur-
wissenschaft, Berständigung mit dieser aus dein sür Beide
gleich wichtigen Gebiete der Psychologie bedeute, einer ein-
gehenden j)rüsung und Alarstellung zu unterzichcn. Mein
Stndiengang, der mich reichlich ebenso viel mit den Ratur-
wissenschaften in Berührung gebracht hatte wie mit dcr Lit-
teraturgeschichte und ausübenden j)oesie, gab mir manchen
Anhaltspunkt, von dem aus ich hoffen konnte, etwas zur l)er-
ständigung in einer Sache beizutragen, die hauptsächlich unter
dem Mangcl an Lntgegenkommen zwischen den Parteicn leidet.
Das Buch enthält sieben Rapitel, von denen das erste und
das letzte allgemein über die Destnition, die Tendenz und die
Aussichten des Realismus handeln, das zweite bis sechste
einzelne j)unkte zu eingehender Betrachtung herausgreisen,
ohne irgendwie den Stoff erschöpsen zu wollen. Aussührlich
in Lxkursen behandelt werden: die willenssreiheit, die Un-
sterblichkeit, die Liebe, der eudämonistische Zug in der welt,
die darwinschen j)robleme. Überall ist in erster Linie im
Umriß der gegenwärtige Stand der nnabhängigen Naturwissen-
schaft in der streitigen Sache und im Anschluß daran dann
die Bedeutung desselben für die j)oesie dargelegt. Der j)unkt,
in dem die realistische Auffassung sich von der bisher in der
Ästhetik durchweg besolgten scheidet, ist wesentlich der: man
saßte alle sene j)robleme der willenssreiheit, Unsterblichkeit
u. s. w. als philosoxhisch-religiöse, während sie nach meiner
Auffassung durchaus naturwissenschastliche sind, die nur von
der exakten wissenschast aus gelöst werden können, so weit
eine Lösung überhaupt in menschlichem Vermögen steht. Ge-
warnt wird andererseits in dem ganzen Buche vor kritiklosem
Verwerten naturwissenschastlichen Materials — beispielsweise
der Vererbungstheorie — in der praktischen Dichtung. Es
handelt sich im besonnenen Realismus weitaus mehr um
eine Methode, als ein willkürliches Aufxutzen mit mehr oder
minder xroblematischen Letzen aus der j)hysiologie und j)atho-
logie. Zum Schlusse wird mit besonderm Nachdruck der Zu-
sammenhang mit den Bestrebungen unserer goldenen Litteratur-
xeriode betont und hier, wie in der Linleitung, noch einmal
energisch die Behauptung zurückgewiesen, daß cs sich um eine
„Revolution der Litteratur" handele. !Vas an guten und
wertvollen Bestandteilen im modernen Realismus stcckt, ist
Resultat ciner langen logischen Fortentwicklung, an der mit-
zuarbeiten weniger Ungestüm als vielmehr stille und ernste
Arbeit ersordert. lvilhelm Bölsche: -

» LcbegnraL'S Drama „Galeotto" wurde im Berliner
„Dcutschen Theater" dargestellt. Seinen Bericht über diese
Aufsührung in der ,,T. R." (23?) leitet I. Lsart mit Be-
trachtungen ein, die deshalb nicht minder einer weiten Ver-
breitung wert sind, weil sie unsern engern litterarischen Areisen
Bekanntes behandeln: ,,Die europäische j)oesie befindet sich in
einem großartigen Umgestaltnngsxrozeß, der an die Zeit der

Renaissance und Resormation, an die der Romantik erinnert.
Nicht hier und da zerstreut, in einzelnen Ländern, tritt der
Gcist der neuen, realistisch-modernen, nationalen Runst
aus, sondern ein einheitlicher Blutstrom sendet seine ver-
zweigungen nach Mst und !Vest, nach Süd und Nord. In
allen Literaturen sind dieselben Rämpfe ausgebrochen, und
was man in Norwegen Ibsen nennt, heißt bei den j)arisern
Zola, in Italien Verga und bei den Spaniern Tchegaray.
Die neue Poesie trägt all' die eigentlichsten Merkmale des
wesentlich germanischen Runstgeistes, gerade in Deutschland
licgt der Ansangsxunkt der Bewegung und nirgendwo anders,
als in den Dichtungen des „Sturmes und Dranges", des
jugendlichen Goethe, des jungen Schiller. Ls ist wahr, bei
uns sclber ist die Blüte von Maifrösten erstickt; die mächtigen
Schöxfer des ,,Fauft", der ,,Rabale uud Liebe" werden sich
selbcr nngetreu, und gegen den unheilvollen Linfluß ihres
Lsellenismus und gegenwartsfeindlicher Romantik suchten ver-
geblich die Grabbe, lhebbel und Ludwig den Nationalismus
und die Ursprünglichkeit znm Siege zu sühren; aber dcr
Blütenstaub, der von uns ausgeflogen und hier nur auf stei-
nigen Boden stel, weil es keine deutsche moderne Bildung bei
uns giebt, hat draußen sruchtbareres Lrdreich gesunden. Doch
bei uns geboren, wird die neue Runst auch bei uns am mäch-
tigsten sich entsalten, sobald man ihr nur Luft und Licht gönnt.
Ltwas ksalbes und Unsertiges, ein Gedrücktes hastet all' ihrcn
ausländischen Vorkämpsern an, die wohl die witterung eines
Neuen geben, aber es in ganzer Fülle, mit gewaltiger Frei-
heit nicht darzustellen vermögen. Schars tritt das bei dem
Spanier Lchegaray hervor, dem Ttzpus einer Übergangszeit,
schwankend zwischen Neuromantik und Realismus." Das
Stück crregte stürmischen Beisall. An die Feststellung diescr
Thatsache und der weiteren, daß bereits seit süns Iahren die
deutsche Übersetzung eines bsauptwerks des sxanischen Drama-
tikers vorliegt, ohne daß sich ein Bühnenleiter darnm beküm-
mert, knüpst ksart die Frage: ,,ist es denn wirklich wahr, daß
die besten Dichterkräste nicht zu Gehör kommen, wenn sie
nicht einen besonderen Beschützer, wie in diesem Falle j)aul
Lindau, stnden?"

Vom Tage: 'iknrl Gödckc, der Litteraturhistoriker,
ist, dreiundsiebenzig Iahre alt, am 28. Gktober in Göttingen
gestorben. Die meiste Zeit seines Lebens hat er als j)rivat-
gelehrter verbracht, seit ^872 war er qxißerordentlicher j)ro-
sessor in Göttingcn. Seine Lebensarbeit, der weltbekannte
„Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung" dürste seinen
ksaupt-lVert nicht so sehr aus die Urteile begründen, die Gödeke
darin niedergelegt: Urteile, die nie von Vberflächlichkeit, ebenso-
gewiß aber wie von krästiger Ligenart denn doch auch von
Linseitigkeit zeugen. Zu einem lverk von dauernder
lvichtigkeit sesteten dieses vielmehr die Genauigkeit, Zuver-
lässigkeit und schier unerschöpfliche Fülle des sorgsältig behaucnen
und geordneten Baumaterials, das es bietet. vielleicht war Gödeke
einer der letzten bsaupt-Vertreter jenes vielgexriesenen „dcntschcn
Fleißes", der heute mit Recht oder mit Unrecht kaum noch
eine gleich hohe Stelle in der lvertschätzung der Gelehrten
einnehmen dürste, wie ehedem. — „Mtc KöuNLN 'lsrcindcit
und l^eicbtum dcr deutscben Lcbrittsprucbe durcb
die /lbundmtcn getördert vvcrden?" lautet die j)reis-
ausgabe des ,,Allg. deutschen Sxrachvereins", über die der
Leser Näheres im Anzeigenteile stndet. N)ir beglückwünschen
den Sprachverein zur N)ahl gerade dieser Frage. N)ie lange
ist es her, daß dem deutschen Schriststeller, der aus den Schä-
tzen der Mundart ein kerniges N)ort herausgeholt, seiner Rede
Anschaulichkeit zu verleihen, rügend ein ,,j)rovinzialismusl"
zugerusen wurde? Lin Stückchen vorwärts kommen wir eben
d och mit der Zeitl

Tbeuter.

„Dic /lldeiutuger und die /lbulcrei" nennt Fritz
ksammer einen Aufsatz in der „Gesellschast" (9). „Die Meininger
haben mit ihrer Theaterkunst-Reform weniger eine dichterisch-
dramatische, als vielmehr eine historisch-malerische Bedeutung.

ls

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