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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 6
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0072

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giösen Bedeutung haben sie sür die ästhetische Lrziehung des
Öolkes eine nnschätzbare Wichtigkeit oder könnten und sollten
sie wenigstens haben. Denn sie sind es sast einzig und allein,
welche den niederen Bolksklassen, den nach Teben mrd Tebens-
stellung Ungebildeten, den geistig Armen das Gefühl sür die
Aunst, sür das 5chöne vermittcln; sie allein sind im 5tande,
ihnen diesen Sinn, bewußt oder unbewußt, zu erschließen und
sie so, in wie bescheidenem Maße auch es geschehen mag, der
sansten Freude in der Runstübung und ihren werken theil-
hastig zu machen.

Freilich, ein großer Teil der christlichen Airche verschließt sich
dieser ganzen Aunstrichtung, steht ihr selbst feindselig gegenüber;
selbstverständlich rechten wir mit solcher religiösen Uberzeugung
nicht, noch verlangen wir derselben etwas auszudrängen, was
sie verschmäht. Der größere Teil aber hält sest an der Dar-
stellung der Lseiligen; die Rirche braucht sie und ruft sie her-
vor. 5ie stehen da und wirken aus die Ukenge, je nach dem
sie sind, in ungezählten Tausenden von Figuren, Gruxxen
und Reliess.

„Ie nach deni sie sind" — denn das ist keine Frage, wenn
wir von ihnen verlangen, daß sie einerseits ihrer hohen reli-
giösen Bedeutung würdig sein sollen, andrerseits künstlerisch
aus das einsache volksgemüt zu wirken haben, so ist gewiß,
daß sie nach ihrer heutigen Beschasfenheit diesem Zwecke
kcineswegs immer entsprechen, ja hänfig das Gegenteil sind
und bewirken von dem, was sie sein und wirken sollen. Nehmen
wir zum Beispiel den gekreuzigten Lhristus, den „blutigen
kseiland", wie er an der 5traße zu stehen pstegt, eine roh
geschnitzte, man möchte sast sagen gezimmerte Figur, der Rör-
perweiß getüncht, übergossen mit den blutigen 5treisen, Aör-
per und Ausdruck von erschreckender ksäßlichkeit. Lin wahres
Bild des Abscheus, geeignet, nicht verehrung oder Andacht
oder Trhebung hervorzurusen, sondern alle künstlerische Tm-
xfindung zu vergisten, die Phantasie zu verderben und die
Schönheit kommender Geschlechter schon vor der Geburt zu
gesährden.

Um so mehr Ursache, einmal die Ausmerksamkeit auf diese Art
der Aunstarbeit zu lenken, die wie im Stillen schafft, unbesehen
und unbeachtet, und in dieser stillcn Thätigkeit ebenso geeignet
ist, Gutes uud Schlechtes zu wirken. wenn wir davon reden
wollen, so lassen wir den eigentlichen Uünstler aus dcm 5piele,
den Bildhauer, der hohe werke sür die Uirche schafft, ebenso
auch den Dorfkünstler, den ja unsere worte nicht erreichen,
auf den fie auch schwerlich einen Lindruck machen würden. Das
meiste aber, was von der Art geschaffen wird, die in Rede
steht, geht aus dem Aunsthandwerk hervor, aus der Fabrik,
welche dem Nassenbedarf mit Massenarbeit entgegenkommt.

Nicht immer und überall aber. Zum Beispiel bcfindet sich
in Tirol, das wohl von allen Ländern den meisten Bedars nach
dieser Uunst hat, im Grödener Thal, in zerstreuten Mrtschasten,
eine ganze 5chule, wenn man so sagen kann, oder eine Grupxe,
ein völkchen von Bildschnitzern, dcren künstlerische Leistungen
weit über das hinausgehen, was der gewöhnliche Dorskünstler
vermag. Ls ist eine merkwürdige Trscheinung, diese Grödener
Bildhauerkunst. Aeine Schule hat sie hervorgerufen, kein
Meister lehrt fie, fie erbt sich sort traditionell in den Familien.
Der Vater übt sie, der 5ohn, die Tochter, der Lnkel. 5o giebt
es männliche und weibliche Bildschnitzer. 5ie arbeiten sür die
Uirche lebensgroße Statuen, Altäre mit ihren Ljeiligen, 5ta-
tuetten sür das ksaus, Reliess aus der Leidensgeschichte Lhristi
sür die 5tationen des Lcidensweges, die Figuren sür den
Aalvarienberg, und was die Frömmigkeit des Landes der Art
mehr verlangt. Sie haben kein Museum der Gyxsabgüsse,
keine 5ammlung von vorbildern, höchstens Lithograxhieen,
Stiche heiliger Figuren und Gegenstände, denen sie plastisch
nacharbeiten.

Und dieser wenigen Behelse ungeachtet, vielmehr deshalb,
weil ihre ksilssmittel so außerordentlich geringsügig sind, gerade
deshalb sind ihre Leistungen so beachtenswert. Die kirchliche
Ausstellung im österreichischen Museum, wo diese Bildhauer
in reichlicher Zahl mit ihren kDerken erschienen waren, zeigte

einzelne Werke von überaus großer Vollendung und Durch-
bildung, aber ganz im naturalistischen 5inne, naturalistisch in
der jdlastik, wie in der Bemalung, denn diese Aunst — und
die Airche verlangt es so — ist xolychrom. Lin heiliger Vin-
zenz, der ein krankes Rind auf dem Arme trägt, ein anderes
an der ksand sührt, war nach dem Leben gearbeitct vom er-
grauenden bsaar bis aus die gewichsten Schuhe herab, bis auf
das Stück Brot, in das der Unabe einbeißt. Nan hätte ge-
glaubt, die Grupxe vor sich zu sehen, wäre sie nicht etwas
unter Lebensgröße gewesen. kVas man vermißte, und was man
wohl sür die Airche zu verlangen ein Recht hat, das war ein
gewisser edler 5til in Form, wie im Ausdruck, wie in der
Farbe. Auch die leiseste 2xur von Idealisirung ging voll-
ständig ab, nicht die leiseste Absicht, Gestalt und Antlitz des
kseiligen zu veredeln, die Ainder zu verschonen, machte sich
bemerkbar.

Solcher Naturalismus, der von dem ausgeht, was der
Rünstlcr um sich sieht und als lebendes Modell benntzt, bildct
den ersten und hauptsächlichsten Lharakterzug dieser Grödener
5chnitzerei. Diese Aünstler find zu geschickt, den toten Lhristus
in solcher abschreckenden Lsäßlichkeit darzustellen, wie er ge-
wöhnlich an den Straßen zu sehen ist, und doch liegt grade in
der vollkommenen Aussührung bei realistischer Bemalung etwas,
was abstoßend wirkt. !Vir glauben, nicht den toten kheiland,
sondern einen gewaschenen Leichnam zu sehen mit dem Aus-
druck des Todes, nicht dem der Verklärung. Und das kann
man wohl nicht als kirchlich bezeichnen, noch scheint es geeignet,
religiöse Gesühle zu erwecken.

Ls ist Aber nicht alles in dieser naturalistischen Art, je
nach dem die Vorbilder waren, die aus der Zeichnung in die
sdlastik verwandelt worden. Trugen diese sentimentalen,
schwärmerischen oder asketischen Lharakter, so ist derselbe auch
auf die Skulptur übergegangen, nicht gerade zum Vorteil, denn
die Fähigkeit des Aünstlers hat nicht ausgereicht, solche Ge-
sühle so darzustellen, daß sie uns natürlich und edel zugleich er-
scheinen. Man sieht das Nngeuügende aus den ersten Blick, und um
so mehr, als das Leelische, was dargestellt werden sollte, mit
der naturalistischen Bemalung kontrastiert. Diese Bemalung
ist die schwächere Seite der Grödener Aunst. Die Farben sind
meist roh ausgetragen, ungebrochen und ungedämpst und kon-
trastieren in breiten Massen, daher denn die lvirkung grell
und bunt ist. Dies gilt iusbesondere von den Reliess mit
vielen Figuren, aber auch von den einzelnen Statuen. Line
lcbensgroße, heilige Barbara, schön und edel in ksaltung und
Ausdruck als werk der plastik emxfunden, war doch durch
dic Dekoration der Gewänder und überreiche Vergoldung um
cine ihrer Schönheit und kVürde entsprechende kVirkung ge-
kommen.

Immerhin haben diese Grödener Figuren noch cin großes
Verdienst dem gegenüber, was der gewöhnliche Bildschnitzer
und insbesondere die Fabrik zu leisten pstegt. Die Fabrik
sorgt sür Altäre, Figuren, Geräte von ksolz und 5tein, und
der Aausmann, der Geschästsmann verkaust sie, hält eine
Niederlage und vertreibt die „IVaare" durch Rcisende, durch
illustrierte Verzeichnisse und sdreiskourants. Die Grödener
Arbeiten haben durch ihren Naturalismus noch einen Zug
von Individualität; ein kheiliger ist nicht wie ein anderer,
er könnte etwa jo gewesen sein, wie er sich darstellt, er könnte
so Leben und Arast gehabt haben. Zn dem aber, was die
Fabrik der Airche darbietet, ist alles Schablone, die hundert-
sach, tausendsach wiederholt wird. Ist das Modell einmal
gut, so stumpst sich doch seine kVirkung durch die kViederhol-
ung ab; man gewahrt nur zu rasch den Lharakter der Massen-
arbeit. Zwar die bessere Fabrik beschästigt auch wohl bessere
Bildhauer, die es sich angelegen sein lassen, den kseiligen-
figuren auch Lmxfindung einzuhauchen und religiösen Ausdruck
zu geben, aber die Lmxfindung erscheint leicht als 5entimen-
talität und salsche Schwärmerei, der Ausdruck als Grimasse.
Die Arbeiten der gewöhnlichen Fabriken aber sagen gar nichts,
sie sagen nur durch ihre Attribute, wer und was sie sind.
Allen aber sast durchweg hängt derselbe Fehler an, wie den

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