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sie mit einem des Lebens würdigen Inhalte, ohne den
die Lncheit selbst der Opfer nicht wert wäre, die sie
kostete. Goethes werk, heißt es, war: „durch ein
Band höchster humanerBildung die seit
derResormation zersalleneNation zu ver-
einigen."
<Lin uns ties beschämendes Kapitel des chehnschen
Buches ist das den Hauptbestandteil des Ganzen aus-
machende zweite, „Goethe und das s)ublikum", ein
Abriß allerdings zugleich unserer Litteraturgeschichte.
Hehn, überall als Rultursorscher die anthropologischeu
voraussetzungen der Völker im Auge behaltend, kann
nicht zu unserer Selbstverherrlichung beitragen. Das
höchste Lob der deutschen Nation — wäre es doch
auch ein Anstoß zur Selbstbesinnung aus unsere päda-
gogischen Thorheiten! — ist darnach wohl, daß sie
die Rraft hatte, ohne Gymnasialbildung zwar, einen
ganzen, vollen, schönen Menschen zu erzeugen. Aber
wie schwer ist den Deutschen diese Linsicht geworden!
Ligentlich sind es doch die viel gescholtenen Noman-
tiker, welche die reine wirkung Goethes wesentlich
sörderten. Vor und neben ihnen aber der von der
heutigen Iugend etwas gar zu hochmütig über die
Achsel angesehene Schiller, der im Briefwechsel mit
Goethe sich von einer staunenswerten Rlarheit des
Urteils über litterarische Dinge erweist. Ls mag sa
sein, daß, wie Lsehn sagt, Goethe das reine Gold,
Schiller dieLegierung mit einem geringern Metalle
ist, es ist doch nicht bloße Unsähigkeit und Bosheit
der Nation, die das verkannt, sondern es hat auch
noch einen andern Grund: die Legierung gab sich,
das pure Gold hielt sich scheu zurück uud wollte ge-
sucht sein.
Und hier, wo wir vom wachstum der Anerken-
nung sprechen und an das Gebiet der Neklame heran-
treten, ist der Grt, die litterarische That chehns
ohne Bemäntelung zu besprechen, es ist die endlich nicht
mehr auszuschiebende Lrledigung der Frage: „was
dünket euch um kseine?" Unzweiselhast ist die hohe
Lchätzung dieses Talentes ein Lsaupthinderungsgrund
der volkserziehenden wirkung unseres größten Dichters.
Lo lange Heine als ein sDendant zu Goethe in
dem Zimmer deutscher Gebildeter prangt, ist er ein
widersacher, und chehn hat recht, ihn so darzustellen,
wie er ihn darstellte. Lrst dann, und hosfentlich ist
die Zeit nun nicht mehr sern, wenn kein j)rosessor
und kein Feuilletonist mehr den Mut haben wird, mit
dein Namen Goethes in einem Atem den kseines zu
nennen, erst dann wird die Zeit gekommen sein, auch
den wirklichen dichterischen Gehalt dieses Geistes zu
würdigen. Zch hehle nicht, daß ich mir denselben be-
deutender vorstelle, als chehn, und ich glaube, der
Grund liegt darin, daß sür ihn das musikalische
Llemeut der j)oesie, das im Volksliede, ich meine ganz
abgesehen von der gesungenen weise, eine so hohe
Nolle spielt, und sür das Goethe selbst, von bserder
angeleitet, ein seines Ghr hatte, wie es scheint, etwas
sehr untergeordnetes ist. Hehn hat, dies zu vermuten,
auch dadurch Anlaß gegeben, daß er in der dritten
Auflage seines köstlichen Buches „Ztalien" sich so
eigentümlich kalt und absprechend gegen die reizoollste
Gffenbarung des italienischen Volksgemütes verhält,
die ich kenne, die toskanischen, umbrischen — über-
haupt italienischen — volkslieder, deren Ursitze doch
Lizilien und das pistojesische Bergland sind. wenn
diese Lieder aus Lsehn einen zu litterarischen oder aber
gar keinen Lindruck machen, so läßt er wohl außer
Acht, daß es sich um gesunde Menschen handelt, die
unter Anderm auch in die Nirchen gehen und so an
der litterarischen Bildung ihrer Geistlichen Anteil
haben, und daß sie — in den jDrovinzen pistosa und
Liena wenigstens — fich einer lebendigen Volksmund-
art ersreuen, aus der sich auch heute noch der ganze
Reichtum Dantes wieder würde zusammensinden lassen.
Unser Buchdeutsch, das im wesentlichen doch auch
Goethe mehr und mehr als seine Sprache mußte
gelten lassen, hat eben in der italienischen Litteratur
nichts Analoges, zu ihrem Lseil.
Doch zurück!
Die beiden populären, ohne das schwere Nüstzeug
seines großen werkes „Rulturpflanzen und chaustiere
in ihrem Übergang von Asien u. s. w." geschriebenen
Bücher chehns, das ältere, jetzt in dritter Auflage vor-
liegeude: „Ztalien, Ansichten und Streislichter" *, wie
das neue über Goethe, beide Lrgebnisse vieljähriger
treuer Ltudien und Beobachtungen, ruhen aus einer
geschlossenen weltanschauung und sest gesügten philo-
sophischen Überzeugungen. Wuß mau nuu auch man-
ches srappierende, ja schneidende Urteil nicht gar zu
tragisch sassen, da man sich bewußt zu halten hat,
daß man es mit einem höchst überlegenen, den Leser
auss Feinste ironisierenden Wanne zu thun hat, dem
es gleichwohl heiliger Lrnst um die Lache ist, die
Lache der europäischen Zivilisation und der Freiheit
des Gedankens und Gewissens, so bleiben sür den
Leser Anstöße und bittere jDillen genug und um so
mehre, als biedermeierisch derselbe ist. ü^hn ist zwar
ein großer deutscher Gelehrter, aber, wunderbar zu
sagen, gar kein j)hilister.
Lr kann rücksichtslos unbillig sein, z. B. wo seine
historisch-philosophische (hegelisch-schellingische) Dogmatik
ins Lpiel kommt. So erkennt er dem zerbröckelnden
antik-heidnischen Leben gegenüber das Lhristentum
nur als ein kulturzerstörendes Llement jüdischer kser-
kunst an und er, der so tiesen Nespekt vor historischen
Bildungen hat, wie vor dem Naturgewande unserer
gesellschastlich-sittlichen Grdnungen, er kann vor einer
anderthalbtausendjährigen Geschichte mit absoluter
Gleichgiltigkeit, wenn nicht verachtung vorbeigehen,
bloß weil sie einmal christlichen Grundcharakter trägt,
er sieht nicht, wie die Rulturelemente der alten welt
hier doch auch erhalten, nur gleichsam mit anderer
Fabrikmarke versehen, wie sie eigenartig weiter ge-
bildet worden sind. völlig unverständlich bleibt mir,
wie man sich den göttlichen Naffacl und das ksöchste
und Lchönste von kservorbringungen der sogenannten
Nenaissance ohne Thristentum vorstellen mag. Die
Nkadonna ist ja doch wohl wenigstens nicht ohne
weiteres Frau Zuno oder gar Frau venus? — Aber
ich bin vielleicht Nomantiker?
wir könnten doch auch sagen, wenn es wahr ist,
was Lsehn behauptet, daß eine neue Nulturepoche sich
mit Leideuschast aus die Beseitigung der Denkmäler
der vorausgehenden zu wersen pflege, wenn, aus diese
historische Lrsahrung sußend, sogar die Lsoffnung aus
dereinstige Vernichtung der j)riesterherrschast gebaut
* Im gleichen Verlage erschienen.
— S2
sie mit einem des Lebens würdigen Inhalte, ohne den
die Lncheit selbst der Opfer nicht wert wäre, die sie
kostete. Goethes werk, heißt es, war: „durch ein
Band höchster humanerBildung die seit
derResormation zersalleneNation zu ver-
einigen."
<Lin uns ties beschämendes Kapitel des chehnschen
Buches ist das den Hauptbestandteil des Ganzen aus-
machende zweite, „Goethe und das s)ublikum", ein
Abriß allerdings zugleich unserer Litteraturgeschichte.
Hehn, überall als Rultursorscher die anthropologischeu
voraussetzungen der Völker im Auge behaltend, kann
nicht zu unserer Selbstverherrlichung beitragen. Das
höchste Lob der deutschen Nation — wäre es doch
auch ein Anstoß zur Selbstbesinnung aus unsere päda-
gogischen Thorheiten! — ist darnach wohl, daß sie
die Rraft hatte, ohne Gymnasialbildung zwar, einen
ganzen, vollen, schönen Menschen zu erzeugen. Aber
wie schwer ist den Deutschen diese Linsicht geworden!
Ligentlich sind es doch die viel gescholtenen Noman-
tiker, welche die reine wirkung Goethes wesentlich
sörderten. Vor und neben ihnen aber der von der
heutigen Iugend etwas gar zu hochmütig über die
Achsel angesehene Schiller, der im Briefwechsel mit
Goethe sich von einer staunenswerten Rlarheit des
Urteils über litterarische Dinge erweist. Ls mag sa
sein, daß, wie Lsehn sagt, Goethe das reine Gold,
Schiller dieLegierung mit einem geringern Metalle
ist, es ist doch nicht bloße Unsähigkeit und Bosheit
der Nation, die das verkannt, sondern es hat auch
noch einen andern Grund: die Legierung gab sich,
das pure Gold hielt sich scheu zurück uud wollte ge-
sucht sein.
Und hier, wo wir vom wachstum der Anerken-
nung sprechen und an das Gebiet der Neklame heran-
treten, ist der Grt, die litterarische That chehns
ohne Bemäntelung zu besprechen, es ist die endlich nicht
mehr auszuschiebende Lrledigung der Frage: „was
dünket euch um kseine?" Unzweiselhast ist die hohe
Lchätzung dieses Talentes ein Lsaupthinderungsgrund
der volkserziehenden wirkung unseres größten Dichters.
Lo lange Heine als ein sDendant zu Goethe in
dem Zimmer deutscher Gebildeter prangt, ist er ein
widersacher, und chehn hat recht, ihn so darzustellen,
wie er ihn darstellte. Lrst dann, und hosfentlich ist
die Zeit nun nicht mehr sern, wenn kein j)rosessor
und kein Feuilletonist mehr den Mut haben wird, mit
dein Namen Goethes in einem Atem den kseines zu
nennen, erst dann wird die Zeit gekommen sein, auch
den wirklichen dichterischen Gehalt dieses Geistes zu
würdigen. Zch hehle nicht, daß ich mir denselben be-
deutender vorstelle, als chehn, und ich glaube, der
Grund liegt darin, daß sür ihn das musikalische
Llemeut der j)oesie, das im Volksliede, ich meine ganz
abgesehen von der gesungenen weise, eine so hohe
Nolle spielt, und sür das Goethe selbst, von bserder
angeleitet, ein seines Ghr hatte, wie es scheint, etwas
sehr untergeordnetes ist. Hehn hat, dies zu vermuten,
auch dadurch Anlaß gegeben, daß er in der dritten
Auflage seines köstlichen Buches „Ztalien" sich so
eigentümlich kalt und absprechend gegen die reizoollste
Gffenbarung des italienischen Volksgemütes verhält,
die ich kenne, die toskanischen, umbrischen — über-
haupt italienischen — volkslieder, deren Ursitze doch
Lizilien und das pistojesische Bergland sind. wenn
diese Lieder aus Lsehn einen zu litterarischen oder aber
gar keinen Lindruck machen, so läßt er wohl außer
Acht, daß es sich um gesunde Menschen handelt, die
unter Anderm auch in die Nirchen gehen und so an
der litterarischen Bildung ihrer Geistlichen Anteil
haben, und daß sie — in den jDrovinzen pistosa und
Liena wenigstens — fich einer lebendigen Volksmund-
art ersreuen, aus der sich auch heute noch der ganze
Reichtum Dantes wieder würde zusammensinden lassen.
Unser Buchdeutsch, das im wesentlichen doch auch
Goethe mehr und mehr als seine Sprache mußte
gelten lassen, hat eben in der italienischen Litteratur
nichts Analoges, zu ihrem Lseil.
Doch zurück!
Die beiden populären, ohne das schwere Nüstzeug
seines großen werkes „Rulturpflanzen und chaustiere
in ihrem Übergang von Asien u. s. w." geschriebenen
Bücher chehns, das ältere, jetzt in dritter Auflage vor-
liegeude: „Ztalien, Ansichten und Streislichter" *, wie
das neue über Goethe, beide Lrgebnisse vieljähriger
treuer Ltudien und Beobachtungen, ruhen aus einer
geschlossenen weltanschauung und sest gesügten philo-
sophischen Überzeugungen. Wuß mau nuu auch man-
ches srappierende, ja schneidende Urteil nicht gar zu
tragisch sassen, da man sich bewußt zu halten hat,
daß man es mit einem höchst überlegenen, den Leser
auss Feinste ironisierenden Wanne zu thun hat, dem
es gleichwohl heiliger Lrnst um die Lache ist, die
Lache der europäischen Zivilisation und der Freiheit
des Gedankens und Gewissens, so bleiben sür den
Leser Anstöße und bittere jDillen genug und um so
mehre, als biedermeierisch derselbe ist. ü^hn ist zwar
ein großer deutscher Gelehrter, aber, wunderbar zu
sagen, gar kein j)hilister.
Lr kann rücksichtslos unbillig sein, z. B. wo seine
historisch-philosophische (hegelisch-schellingische) Dogmatik
ins Lpiel kommt. So erkennt er dem zerbröckelnden
antik-heidnischen Leben gegenüber das Lhristentum
nur als ein kulturzerstörendes Llement jüdischer kser-
kunst an und er, der so tiesen Nespekt vor historischen
Bildungen hat, wie vor dem Naturgewande unserer
gesellschastlich-sittlichen Grdnungen, er kann vor einer
anderthalbtausendjährigen Geschichte mit absoluter
Gleichgiltigkeit, wenn nicht verachtung vorbeigehen,
bloß weil sie einmal christlichen Grundcharakter trägt,
er sieht nicht, wie die Rulturelemente der alten welt
hier doch auch erhalten, nur gleichsam mit anderer
Fabrikmarke versehen, wie sie eigenartig weiter ge-
bildet worden sind. völlig unverständlich bleibt mir,
wie man sich den göttlichen Naffacl und das ksöchste
und Lchönste von kservorbringungen der sogenannten
Nenaissance ohne Thristentum vorstellen mag. Die
Nkadonna ist ja doch wohl wenigstens nicht ohne
weiteres Frau Zuno oder gar Frau venus? — Aber
ich bin vielleicht Nomantiker?
wir könnten doch auch sagen, wenn es wahr ist,
was Lsehn behauptet, daß eine neue Nulturepoche sich
mit Leideuschast aus die Beseitigung der Denkmäler
der vorausgehenden zu wersen pflege, wenn, aus diese
historische Lrsahrung sußend, sogar die Lsoffnung aus
dereinstige Vernichtung der j)riesterherrschast gebaut
* Im gleichen Verlage erschienen.
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