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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 9
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0115

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S—.

ist, irgend eine wesentliche oder hervorragende Ligen-
schast, irgend eine wichtige Zdee klarer und vollstän-
diger zu osfenbaren, als die wirklichen Gegenstände
es thun. Diese Desinition kam sowohl seinem Drange
nach wirklichkeit wie seinem Drange nach Persönlich-
keit in der Ruust entgegen." Zola drückt denselben
Gedanken mit eigenen worten aus: „Lin Runstwerk
ist ein Stück Natur, ansgesaßt durch ein Temperament".

" Brandes meint, dies sei wohl srisch und einsach,
nicht aber so bestimmt gesagt, daß es zur Ausschließ-
ung all der Kunst genüge, die jener Natüralist ver-
wirft oder verschmäht. Wie weit däs Temperament
die ,)Natur" umforme, sei die Frags^ deim Uus dieses
zweite Glied salle doch der Nachdruck ber einem
„Naturalisten". „Ivenn ich ein Lckelett male, dann
male ich Natur. IVenn ich den Tod als Skelett
male, ist das noch Nätur?" Zolas Zlngriff ist sreilich
mehr gegen die^ sogenannte historische Nunst ge'richtet,
als gegen die phantastische. Abeich hier sragk sich's,
„ob nicht das, was setzt das Temperament genannt
wird, ganz wie das, was vorher der Geschmack, später
die j?hantasio genannt wurdch läutert und beschneidet,
vergrößert <und verschönert?" ^ „Die Antwort muß
lauten: daß auch nicht der Naturalismus jener Um-
bildung der Wirklichkeit entgehen kann, die sich aus ^
dem kVesen der Aunst ergiebt. chein Vorzug kann
nicht auf diesem s)unkte gesucht we'rden, sondern darin,
daß diese Nichtung reichlich Gelegenheik hat, Modelle
zu benutzen, während der historische Dichter in der
Negel die kvahl hat, in der alten Tracht einen Zeit-
genossen oder eine s?uppe darzustellen."

Nun wendet sich Brandes mehr und mehr zur
Betrachtung Zolas, nicht des Theoretikers, sondern
des Dichters. Zn Zolas Lrstlingswerk, in dem Nko-
dell und Dichter Tines sind, leidet die chauptperson
unter dem Schrecken über das ksäßliche und Mider-
wärtige im wirklichen tLeben, das doch, wie es den
Nlenschen in ihr abstößt, den Nünstler in ihr anzieht:
„Zola war im Voraus entschlossen, der Dichter der
Nehrseite zu werden." „Und wenn bei ihm, wie bei
andern Romandichtern, der Blick sich nach und nach
erweitert, so daß er nicht mehr nur sich selbst schil-
dert, sondern eine Fülle von Gestalten, die von ihm
selbst weit verschieden sind" und die kVelt der Tiere,
Manzen und Sachen, „dann müssen wir trotzdem in
all diesem immer ihm selbst begegnen." kvelches ist
nun die Ligenart von Zolas „Temperament" ? Be-
sprechend ein Buch der Brüder Goncourt will er sie
wohl selbst zeichnen als Tnergie, Verachtung des
Urteils der Dummen und Furchtsamen, Nühnheit,
Uraft der Farbe und des Gedankens, künstlerische
Gewissenhastigkeit. vielleicht sei sein Geschmack ver-
dorben: ihm schmecken stark gewürzte Gerichte. „Lr
hat sich erkannt," bemerkt Brandes dazu, „aber nicht
ganz. Die Lnergie der Brüder Goncourt war von
der scharfen Art, nicht von der breiten. Sie läßt sich
nicht quantitativ, wie die seine, messen. Und er stand
von Anfang an der Rlassizität und der Nomantik viel
näher, als sie."

Diesen letzten, für viele jedenfalls staunenerregen-
den ^atz sucht Brandes nunmehr zu begründen, in-
dem er das Verhältnis des „Temperaments" zur
„Natur" bei Zola durch zahlreiche Beispiele aus seinen !
Romanen darzulegen strebt. Und er beweist es über- ^

zeugend, wie sehr bei Zenem das „Temperament" -
die „Natur" umgestaltet. Ukanches erscheint unserm
Schriftsteller „fast homerisch". „Arbeiter aus der j)ro-
vence, in dem Lichte der Zliade gesehen," sagt er nach
Anführung einer Stelle, „das ist nicht nur Nomantik,
wie das frühere Beseelen der Landschaft: es ist der
klassische 5til." Und er führt an den Stellen an, in
denen wir s)unkt für s)unkt verfolgen können, „wie
das Temperament die Natur umdichtet" und sich
geradezu chrische Tmpfindung einmischt. So dort, wo
er ein junges Ulädchen schildert, das im Barrikaden-
kampfe gegen den Staatsstreich fällt. Tr verklärt sie
mehr und mehr, um den Tindruck dessen zu erreichen,
was er schließlich ausspricht: „Zn diesem Augenblick
war sie die jungfräuliche Freiheit selbst." So steigert
sich noch an vielen andern Stellen die „naturalistische"
Schilderung geradezu zum Symbol. Tine Vorliebe
für die symbolische Behandlung kleiner wirklicher Züge
läßt sich nicht minder oft feststellen. Zn „U'oenvre"
scheint es einmal, als habe Zola im ksange des Ukalers
zur Symbolik „auf seinen eigenen Ulangel an Fähig-
keit hindeuten wollen, die Umgebung mit dem Natura-
lismus wiederzugeben, den er stets als Theoretiker pre-
digt und in seiner j)raxis so häufig überschreitet."

Brandes beleuchtet nun andere Stellen bei Zola,
die ausgemalte Verkörperungen von Naturgegen-
ständen enthalten: „wir haben das Gebiet der Ukythen-
bildung betreten". Am Tigentümlichsten sei jenem
U'lanne eine „durchgehende s)ersonifikation eines un-
persönlichen Gegenstandes, um welchen herum er Alles
gruppiert." „Zn der Negel drehen sich seine Bücher
um ein Stück Trde, ein Gebäude, eine Fabrik, ein
Geschäft oder Ähnliches, dem er übermenschliches Leben
verleiht, und das dann als Symbol der Ukächte dient,
die über die Lebensweise und die Verhältnisse eines
ganzen Standes oder einer ganzen Nlenschenklasse
walten. Bald wirken sie als bloße Sinnbilder, bald
als überirdische gute oder böse bvesen, ungefähr wie
die Götter in den bseldengedichten des Altertums oder
wie das unerbittliche Schicksal in der alten Tragödie."
Beispiele überall: Zn „Vu täute cle l'ubde Mouret"
der Garten, eine „Liebesgottheit", in „Vu kortuue cle3
Rou§ou" der alte Nirchhof, eine echt romantische
„U'lacht", in „v'?>.83oruruoir" die verdcrbenausspeiende
Branntweinschenke, in „-^u douüeur cle3 clunre^" die
Nlodehandlung, „die alle die kleinen Geschäfte in ihrer
Nähe verzehrt", in „Oeruriuul" das gefräßige Berg-
werk. Ukan vergleiche damit, sagt Brandes, die
Nüchternheit, mit welcher Dostojewski das Zuchthaus
in Äbirien geschildert hat. Dort kein Anflug von
Symbolisieren; das Zuchthaus ist ein totes Ding, nur
die Gesangenen leben.

Zum Schlusse entwickelt der Nritiker noch einmal
kurz seine Ansichten über Zola. „Lr schildert selten
die Tntwicklungsgeschichte des Zndividuums, vielmehr
die Tigentümlichkeit desselben als bleibend und fest."
„Tr wollte in seiner großen Nomanreihe ein Zeit-
alter schildern, das seinen Abschluß und anscheinend
sein Urteil bei Sedan fand. Damit war Folgendes
gegeben: 2lbscheulichkeiten und eine Nemesis." „Ganz
philosophisch klar ist die Grundansicht nie," immer
aber die Lebensanschauung äußerst düster. Lsaupt-
fähigkeit: „typische Züge und große Totalitäten auf-
zufassen und wiederzugeben." Den Zndividuen

-S-L
 
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