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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 11
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Paidagogos: Unser litterarisches Publikum
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0144

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zuziehen. Denn die Renntnisse der Schüler ver-
gißt man nicht: das Nänzel wird schwerer und schwerer
bepackt. Und mühseliger und mühseliger wird die
Neise, kommt man über die Attnnesangerzeit, von der
man nicht das Geringste versteht, in die dürren Stexpen
des Meislergesangs un.d der schlesischen Dichterschulen,
und selbst der Linblick in die nenn Bände des „irdi-
schen Vergnügens in Gott" vom Lsamburger Nats-
herrn ^einrich Brockes wird kaum noch als ein
irdisches Vergnügen empfuuden. Aber es winkt das
fruchtbare Land. Goethe, Schiller, mit ihren werken,
die Tuellwasser sind! Ia „Goethe! Lchiller!" Die
Biographie unserer Dichterheroen lernt Ihr freilich,
meine Iungen, und wehe <Luch, wenn s)hr beim
Lxamen nicht wißt, in welchem Iahre der „Götz"
oder der „Tell" erschien. Aber lesen wollt Ghr
sie? Das ist dem s)rivatfleiß überlassen: Rommt s)hr
nlüde nach Hause und habt Ihr alsdalm Lure Arbeiten
lloch fertig gemacht, so seid Ihr dazu noch immer
frisch genug: steckt die Nasen hinein, man erlaubt's
Luch — so lailge Ihr bei vollen Rräften feid, Nior-
geils iil der Lchule heißt das, giebts in der „Litteratur-
geschichte" wichtigeres zu thun. Allerdings: die
„Glocke" uild der „Lpaziergang" uud eill paar aildre
Gedichte werden Luch inonatelaug zerklärt. And Ihr
Liebeilzehllfährigeil müßt im Auschluß nicht ail ihre
j?oesie, soudern an ihren „Inhalt" deutsche Aufsätze
zurechtschileideril, benäht mit Gedankenfäden über
A'lenschenglück, Fainilienlebeu, volkswirtschaft, ja, be-
gossen mit wasser aus der politischen Railnegießer-
kanue. Der Attlchbart muß deu j)hilosopheu spielen
— er muß es, er muß über Dinge sprechen, die
ihn weder was angehen, noch, die er versteht. s)ül
den letzten Schuljahren komint die Zeit, da er auch
würdig befuuden wird, etwas vom künstlerischen, vom
dichterischeu Mert der s)oeten nicht verstehen zu lerneu,
sondern zu hören. Da sitzt nun der Herr professor
stolz droben auf seinem Thron uud teilt Goethen uud
Schillern seiue Zeusuren aus. wehe Dir, Züngling,
wolltest Du glaubeu, es verdiene 2u, wer uur 2d
erhalten hat. Aber es ist schon dafür gesorgt durch
jahrelanges walken und Rneten, daß Dein bischen
gesnndes Natureinpfinden nicht mehr elastisch ist, uud
daß Du gehorsam trägst, was man Dir auflädt.
Diese Nrteile! Melcher ältere Manil von Derstand
wäre nicht schon beklommeu verstummt, setzte ihm eiu
j?rimauer auseiuauder, wie er dieses und jeues ver-
steheu müsse? kfübsch, — nebenbei gesagt, — hübsch
wäre es, würde einmal uutersucht, bis iu die wie
vielte Geueratiou gewisse Urteile fich zurückverfolgeu
lasseu, welche unsre Scholarchen ernst uud gesetzt ver-
künden uud ihre Lchüler hell und keck iu die Melt
schmetteru — d. h. welcher Dorfahr denn eigentlich
die betreffenden Merke wirklich gelesen und dann die
Urkritik geliefert hat, die iuuner aufs Neue verlegt
uud kolportiert wird.

Aüt uuseru Alassikern pflegt der Otteraturunter-
richt abzuschließen. Ach, die jungeu Leute habeu so viel ge-
lernt, mühselig uud verdrosseu haben fie's gelernt —
aber eius hat man ihnen uicht beigebracht: im Dichter-
werke das wirkliche Lebeu verklürt wieder zu fiudeu uud
eineu echten Dichter deshalb bewundern zu leruen,
weil er dasteht als eiu getreu zeichueuder uud doch selbst-
schaffeuder Abbilduer der welt, wie sie freilich bei Lleibe

uicht Zeder sehen kann, wie sie aber doch ist und
wie sie der Dichter uus seheu lassen soll.

Nun tritt der Mensch ins Leben und wird jDubli-
kum. Ledig des Zwanges sucht sich der also „Dor-
gebildete" seinen Lesestoff. Lr weiß es vielleicht nicht,
aber es ist doch so: die Aunst schiert ihn den Teufel
—wo sollte deun e r auch eine Ahnuug davon her-
haben, was für eine Lache eigentlich poesie ist? s)ro-
sodie hat er freilich im Ropf: sechzig Sorten von vers-
füßen kann er herzählen — alle wetter auch, er hat
ja selber „Gedichte" machen müssen und regelmäßig
einen roten Tintenstrich an den bseftrand bekommen,
kam ihm einmal eiu --- — an die Stelle zu fitzeu,
an die laut Lchema in § so uud so viel ein — ge-
hörte! Ls ist gar keine Frage: an Aenntnis von
katalektischen und akatalektischen versen war der alte
bsomer ein Stümper gegen ihn, und den Dichter gar
unserer Zeit will ich seheu, deu er mit seiuen Tri-
brachxssen, Antispasten und jDrokeleusmatikussen nicht iu
Angstschweiß jagen könute! Lsat er je ein wort von
der seelischen Bedeutung des verses gehört, hat ihn
je Liner verstehen gelehrt, wie die Lmpfiudung selber
sich ihre Lprache schafft, wie Nhythmus uud Neim
durchaus kein äußerliches Ding siud, kein Nock zum
Auziehen, soudern der verklärte Leib einer verklärten
Seele? Und hat ihn je Liner den lebendigen Bau,
den Organismus eines Uuustwerks sehen gelehrt, sehen
gelehrt,

,,U)ie Alles sich zum Ganzen webt,

Lins in dem Andern wirkt und lebt!

A)ie bsimmelskräfte auf- und niedersteigen

Und sich die goldnen Limer reichen"?

k)at Liuer seiue jDhautasie gebildet, daß sie des Dich-
ters s)hautasie zu folgen, seine Lmpfiudung vertieft,
daß sie des wahreu Dichters Lmpfiuduug übcrhaupt
nachzubildeu vermag? Das Alles ist ja kurzsichtig
gewordeu, wie sein Auge und guckt durch Brillen,
wie dieses!

Linen ungeheuren Nespekt vor unseru Alassikern
behält der Lx-Lchüler freilich noch (er müßte denn zu
den Nreiseu des „jüugsteu Deutschlauds" gehöreu) —

Gott sei Dauk, denu sonst hätt' es die Zugend uns
Alteru bereits unmöglich gemacht, deu Goethe lesen zu
dürfeu, ohne daß wir uus gerade schämen müßteu.
Aber jener Nespekt ist keiue Achtuug, die mit ȟiebe
gepaart ist — es ist der Nespekt, mit dem etwa wir
mathematischen Laien auf einen Gauß blickeu: Neiu,
muß der N lanu gescheit sein, sagt dieser Nespekt, daß
mau ihn so fürchterlich lobt! Nur mit dein Unter-
schied, daß wir einem Gauß gegeuüber wissen, daß
wir nichts vou seiueu Leistungeu versteheu, einem
Goethe gegeuüber aber uns einbilden, wir verstän-
den das Urteil, das wir uachschwatzen. Attt dem
Lesen der Nlassiker hat das Alles nichts zu thuu.
Nkau hat soviel über sie gelesen und gehört. Liu
paar Gedichte haben wir auch auswendig gelernt,
uud der lustige Zrrtum, daß man das, was mau
ausweudig kenut, auch iuwendig kennt, hält nns
uuser Leben lang ab, uus wieder damit zu befasseu.
U)as also lesen wir, — wir, d. h. natürlich wir
„Nlaturi" ?

Uusere Nkodernen. Die Schriftsteller, die zur
Gegenwart sprecheu. Da ist's, als giuge uus das Leben
aus, da guckeu wir iu die große uud kleine N?elt, da

-ZE

— 13S —
 
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