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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 14
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0198

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noch iil weit empfiirdlicherer Meise auf anderem Wege
als durch die bloße Ausdehnung. Zndem nämlich
L>chubert gleich von Anfang an fertige, abgerundete
j?erioden bildet, erreicht er zwar zunächst einen großen
vorteil gegenüber den Rlassikern, büßt fedoch später,
bei der letzten wiedercholung, wo es gilt, gleichzeitig
durch s)roportion und durch Ueberraschungen zu ent-
zücken, viel mehr ein, als er anfänglich gewonnen
hatte. Denn die von 2lnbeginn an wunderbar voll-
endeten perioden können gegen den Schluß hin nicht
mehr übertrumpft werden (man verzeihe mir diesen
niedrigen aber bezeichnenden Ausdruck): sie sin.d bei
der bviederholung bloß unansehnlicher veränderungen,
keiner durchschlagenden, überraschenden Neuernngen
inehr sähig. Deshalb verspürt der ^örer, nachdem
er über die Ausweichung hinausgelangt ist und nun
den ganzen ersten Teil schonungslos in der ursprüng-
lichen Gestalt zurückerwarten muß, Unlust oder, mit
einem andern bVort, Langeweile. Als unvermeidliche
Lolge derselben Ursachen ergiebt sich ferner die kom-
positorische Vernachlässigung der sogenannten Ausweich-
ung (nach dem bviederholungszeichen des ersten Satzes),
also der Uardinalstelle feder L-onate. chier weicht
Schubert in einem andern Sinn aus, nämlich der
Ausgabe. Zwar bedeutet auch bei ihm noch jene
Stelle den Uüttelpunkt der Schönheit, nicht aber den
Uttttelpunkt der Spannung. Giebt es überhaupt in
den Schubertschen ^onaten eine ^pannung? Zin
Linzelnen ja, doch im Allgemeinen schwerlich. Die
Riesenproportionen verhindern die Uebersicht und
stumpsen das Ortsbewußtsein ab, umsomehr als noch
zwei andere Umstände den Hörer desorientieren: die
gleichmäßige ^üßigkeit der chaupt- und Nebenmotive
und der Ulangel an Tempo. Schubert besitzt eine
ck-tärke wie außer Beethoven kein Anderer, aber wenig
Temperament; er schlenkert gerne, schläst auch wohl
mitten in einem seiner sogenannten Allegro ein mn
zu träumen. — U)eit unbedenklicber als die Negel-
mäßigkeiten erscheinen mir die Lreiheiten Schuberts.
bVenn er zum Beispiel aus einen ersten Satz in b
einen zweiten in cis-moll und vielleicht einen dritten
in c-moll solgen läßt, so scheint mir der Schaden
gering, dagegen der Gewinn, nämlich die prachtoolle
Lärbung, unersetzlich. Zch komme daher nochmals
aus meinen Lsauptsatz zurück: nicht bVillkür, sondern
übelangebrachte Gewissenhaftigkeit ist das Uterkmal
der Schubertschen Sonaten in sorineller ^insicht.
Schubert möchte mittelst Blumen einen Niesenbau
geometrisch genau herstellen; zu diesem Lnde steckt er
Lineale durch die Guulanden, mißt die ^träuße mit
dem IVinkelmaß und hestet die Nränze mit Bolzen zu
viereckigen Liguren sest. „bvarum also durchaus
die Sonatensorm wählen?" TVeil die Lonatensorm
besondere, vornehme ck>chönheiten veranlaßt, sür welche
außerhalb derselben nirgends ein Zweck und eine
Stelle in der bvelt ist. ^chubert aber verspürte Lust
und Nrast nach jenen besonderen, vornehmen Schön-
heiten und darum hatte er trotz Allem Necht, die So-
natensorm zu wählen.

Ts kostet mir keine geringe Überwindung, nicht
aus dem Umsang in das Znnere zu steigen und nach
der Form das TVesen, nämlich die musikalischen Tigen-
tümlichkeiten der einzelnen Gruppen zu schildern. Allein
das Maß eines Aussatzes ist leider noch unerbittlicher,

als dasjenige einer Bonate, und ich darf mir nicht !
meinerseits himmlische Länge erlauben. Tines aber
schulde ich jedensalls meinem Thema und meinem
Leser: die bsinweisung auf die unbestreitbaren, strahlen-
den, unvergleichlichen und unglaublichen Vorzüge.
Dieselben sind nach beiden entgegengesetzten Nichtungen
in verschwenderischer Fülle zu finden, nach der Nich-
tung der Rrast sowohl, als der Zartheit.

IVenn wir Schubert zwischen Blnmen im Grase
liegen sehen — und dies ist seine gewöhnliche Stellung
— sind wir geneigt, ihn als harmlosen Schäser und
Schlässr zu betrachten. Steht er aber einmal aus,
so erstaunen wir vor seinem Riesenwuchs, vor der
Nlajestät seiner Bewegungen, vor der herkulischen
Nrast seiner Leistungen. Stahlscharf schneidende Disso-
nanzen, darunter namentlich ck-ekundenintervalle, find
seine Lust, mit Behagen wetzt er die Ssorzatoschläge
in Gegenbewegung, Synkopen find ihm ein Festschmaus.

Tr bedars pompöser Oktaven, um seines Lebens sroh
zu werden; kann er dieselben nicht als seurigen j)e-
gasus gebrauchen, so müssen sie ihm wenigstens zum
holperigen Steckenpserd dienen; sie zu entbehren ver-
mag er nie. Über Alles herrlich sind seine enharmo-
nischen Nlodulationen und chromatischen Noloraturen;
die hämmert er zu festem Metall, daß eherne Blitze
hervorsprühen (z. B. u-clur sposthumj I. Satz, I. Theil
nach der Nantilene, eine thematische Nette, welche, bei-
läusig gesagt, jeder andere Nomponist in die Aus-
weichung würde verlegt haben). Der titanische Zorn
der leidenschastlichen Sextengänge im op. 14z (I. ^atz,
Themagruppe) und wiederum die königliche Vornehm-
heit des Nhxthmus in den Übergängen des letzten ^atzes
der c-moll-Sonate (z. B. aus dem 68-moIl- in das
68-clur-Stück) würden sür sich allein hinreichen, um
Schubert als den nächsten Verwandten Beethovens
erkennen zu lassen.

Üinsichtlich des Schmelzes spotten Schuberts So-
naten nicht bloß der vergleichung, sondern sogar der
Ahnung. Da ereignen sich Zauberkünste und ^alb-
lichtessekte, vor deren Zartheit die j?hantasie den Atem
zurückhält. bslerbei denke ich an hunderterlei Stellen;
am wenigsten an die kurzen, mitunter etwas über-
ladenen und gequetschten Liedweisen der Andante, ani
meisten an die Ausweichungen der ersten ^ätze. Takte
wie das cl-molI-Motiv in der dlusweichung der
(posthumen) d-clur-Sonate (I. Satz) oder die c-clur-
Gruppe des Andante in ox>. 147 oder das x»p. von
u8-mo1I bis 6-moII im Scherzo von op. 42, vor allem
aber die ganze große Ausweichung (c-clur u. s. w.)
im I. ^atz der u-clur-Sonate (posthi) müssen selbst dem
nüchternen Verstande als Grüße aus dem paradiese
gelten. Da schmilzt jeder Ton zu schlackenloser Schön-
heit; da „riecht" es nicht bloß „nach Musik", es
dustet danach. Das ist das reine, stille Seelenglück,
in Musik umgesetzt; mit einem Nerv im tiessten Znnern,
durch welchen wehmütigen kosmische Ahnungen zittern.

Nnd dergleichen hätte Bchubert unterdrücken sollen,
um uns tadellose ^onaten zu liesern? Sämtliche
Sünden Schuberts gegen die Lorm lausen schließlich
aus eine glorreiche Tugend hinaus: den unaushalt-
samen Strom seiner himmlischen Znspirationen. The
er nur zur Arbeit schritt, stand plötzlich ein Nlotiv
von überirdischer Schönheit vor seinen Blicken. Ver-

gebens raunte ihm die Vernunst zu, es zu ermorden, ,

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