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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 17
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0249

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daraus gemacht, daß er an Negiua eiue Schwesier
besitze, so wäre vielleicht sür allo Folgezeit der ruler-
laubteu Auuäheruug vorgebeugt wordeu. Aber kauu
dieser Gruud mit Äecht bestebeu? chollte blos darum,
weil möglicherweise die juugeu Leute iir eiuem weit
aussteheudeu chpäter Neiguug für eiuauder fasscu
köuuteu, das chchamgefützl eiuer Alutter hiutaugesetzt
werdeu, uud diese verpflichtet seiu, ihrem Riude vou
juugeu jgcchreu auf es eiuzubläueu: Deiu Nater ist
eiu Lump? würde dies eiuer liebeudeu Mutter
uatürlich seiu? Der Lbser urteile selbst. Aber auch
für Frau Alviug besteht uicht eigeutlich der ebeu er-
örterte — eiu auderer, ein bfauptgruud ift da, wegeu
desseu sie das Immer-Bekeuueu vou chchaude uötig
zu habeu meiut. Deuu „was wird aus der Wcchr-
heit?" fragt sie. Die j?flicht zur wahrcheit iu erster
Neche ist es, die ihr das Nercheimlicheu vou chchaude
verbietet. Nuu, uud sollte fich herausstelleu, daß diese
Mahrheit uicht uur uicht augethau ist, das U)ohl der
Aleuschheit zu förderu, souderu wohl gar, es zu be-
eiuträchtigeu, so wird ihr ebeu, als eiues Nebels, die
Bezeichuuug der chchamlosigkeit zukoiumeu.

Der Nachweis, daß sie etwas dem Nleuschheits-
wohle Förderliches sei, wird uicht geführt, eiufach,
weil er uicht geführt werdeu kouute. Lrau Alviug
läßt uur durchblickeu, daß sie mit ihrer wahrheit die
Dorstelluug wie vou etwas Meuschlich-Zweekoollem
verkuüpfe. „Ich ertrage all diese Baudeu uud
Nüeksichteu uicht läuger!" ruft sie aus; „ich kauu
uicht mehr! »ich muß mich zur Freiheit emporarbeiteu!"
Also ihre wahrheit, meiut sie wohl, würde ihr zu
dem Mohlgefühle der Freiheit verhelfeu. Mas er-
weitert besagt: Bekäuutet ihr immer eure Dergeheu,
ihr Nleuscheu — uicht uur jeder des auderu, souderu
wie doch billig, jeder auch die eigeueu — ihr würdet
mit freierem Haupte iu der Melt umbliekeu köuueu.
Ist das uuu richtig? Doch gerade das Gegeuteil
würde statt habeu: weuu jedermauu seiue Nergeheu
bekäuute, würde jeder vor dem Auderu iu bestäudiger
Furcht lebeu urüsseu.

Dieliuehr diese Mahrheit ist deur Gemeiuwohl
fchädlich. Mo uehmeu die Süuder eiu Necht her,
ihre chchaude vor deu Augeu Ieuer bloßzustelleu, die
aufrichtig zum Guteu flrebeu, uud die weuiger süudhaft
fiud, als sie; die sie mit deur Bekeuueu ihrer „Mahr-
heit" vielleicht uur uulustig uud zum Guteu weuiger
tüchtig macheu würdeu? Uud das werdeude Geschlecht?
Mie sollte es zum Guteu heraugebildet werdeu, weuu
es riugs unter deu so viel Aeltereu so viel Schaude
eutdeckeu müßte?

Das Thema wird etwas umgestellt iu der „Mild-
eute". lcher ist die Mahrheit, die durch das Aufdeckeu
eiuer Schande geschaffeu wird, uicht selber eine chcham-
losigkeit, aber das ihr imputierte Folge-Gefühl, die
Freude, ist es. k^jalmar Tkdal, der mit seiuem Meibe
Giua iu laugjähriger Lhe gelebt hat, muß plötzlich
höreu, daß diese Giua ehemals die Maitresse des
Großhäudlers Merle geweseu. Mahrlich doch eine
Lutdeckung, die iu uormalen Nleuscheugemüteru uur
das zeitigeu kauu, was der Dichter auch die Mahr-
haftigkeit hatte, iu seiueu Nteuschen gezeitigt zu zeigen:
uämlich jeues moralische Uubehageu, das sich uicht
sofort mit dem widrigeu Begebuis abzufiudeu vermag.

^ Aber mau höre, was folgt. Raum uämlich habeu

die Lheleute Zeit gehabt, sich über das veräuderte
Zueiuauderfleheu eiu weuig klar zu werdeu, da klopft
es auch schou au die Thür uud hereiu tritt, der der
Briuger der Mahrheit geweseu, der Lohu des Groß-
häudlers, Lserr Gregor Merle, mit „strahleudem, ver-
gnügtem Gesicht", wie es heißt. Lr will deu Lhe-
leuteu die bfäude reicheu uud sagt — die chtelle ist zu
ergötzlich, wir müsseu fie wörtlich auführeu — :

„Nuu, ihr liebeu tceute —! (sieht sie abwechselud
au uud flüstert Ealmar zu:) A!so uoch uicht gescheheu?"
sDas Aussprecheu mit Giua uämlich. Verf.j

chj. (laut): „Ls ift gescheheu."

Gregor: „Ls ifl?"

Fsj.: „Zch habe die bitterste Stuude iu meiuem
Lebeu durchlebt."

Gr.: „Aber ich deuke doch auch die erhebeudfle."

bfj.: „Nuu, vorläuflg habeu wir es jedeufalts
hiuter uus.

Giua: „Gott verzeihe Ihueu, k^err Merle."

Gr. (iu großer Derwuuderuug): „Aber ich ver-
stehe uicht."

Lsj.: „Mas verstehst Du uicht?"

Gr.: „Liue solche große dlbrechuuug — eine
Abrechuuug, auf welche eiue gauz ueue Lebeusbahu
gsgrüudet werdeu soll eiue Lebeusbahu, eiu Zusam-
meulebeu iu Mahrheit uud ohue jedes Geheimuis —"

Hj.: „Za, ich weiß schou; ich weiß es so gut."

Gr.: „Zch hatte sicher erwartet, weuu ich durch
die Thür hereiukäme, würde mir eiu Licht der Der-
kläruug vou Nlauu uud Lrau eutgegeustrahleu.
Uud uuu sehe ich uichts als dieses dumpfe, schwere,
traurige -—"

Meiterhiu heißt es: kfjalmar müsse doch eiue höhere
Meihe vou der großeu Abrechuuug empfaugeu habeu!
Uud bsjalmar autwortet u. A.: „Glaubst Du, eiu
Nlauu köuue deu bitteru Trauk, deu ich soebeu ge-
leert habe, so leicht verwiudeu?" — „Tiu gewöhu-
licher Nlauu, ueiu; aber eiu Nlauu wie Dil," aut-
wortet Gregor. Das war l^ouig um deu Bart, uud
der uugewöhuliche bchalmar erwidert (übrigeus eiu
kostbares Gesicht, das er dazu macheu muß! wie
eiu Nerurteilter, weuu er gekitzelt wird, wie Frauzos
sagt): „Ia, lieber Gott, ich weiß schou. Aber Du
mußt mich uicht treibeu, Gregor. Dazu gehört Zeit,
siehst Du!"

Norsteheude chzeue macht es deutlich: Zbseu deukt
die Nleuscheu falsch, uud folgerichtig gerät er mit
seiueu dichterischeu Zustiukteu, die gauz richtig auf
der Fährte des wahreu Nleuscheu sind, iu Midersprucl^.
cheiue Geschöpfe geberdeu fich augesichts der ihueu
gewordeueu Nütteiluug, wie Nleuscheu iu solcher Lcrge
pflegeu, sie schämeu fich uud köuueu fich uicht zusam-
meusiudeu: uud dauebeu fleht uuu dieser Mahrheits-
prophet Gregor uud wuudert fich darüber: deuu er
hat keiueu Begriff vou der Lcham. Dieses Muuderu
Gregors ist wie eiu ius f?ublikum geschleuderter Witz:
da seht ihr's, was ihr für Rerle seid: mau briugt
euch die wahrheit, und — ihr schämt euch!"

Liu Glück uur, daß wir N'leuscheu iu eiue Form
gezwäugt siud, iuuerhalb dereu wir uus immer als
N'leuscheu werdeu geberdeu müsseu — trotz Zbseu. —

Auch wir wolleu Mahrheit. Aber die Mahrheit
des Tharakters. Die Treue gegeu das Ligeugesetz,
gegeu das sittliche Zdeal uuserer Natur. Der Tha-
 
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