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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 19
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0275

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werke ->Gx>er und Drama<. ausgesxrochen hat, beftehe"
leine Thatsache, die nur leider bei den Grellianern
selbst und in Sonderheit bei Grells Schüler Beller-
mann in Berlin so gut wie gar nicht bekannt zu sein
scheint); er, der ausdrücklich erwähnt, es stehe „außer
allem Zweifel, daß die Musik mit dem Aufgeben der
reinen Stimmung (durch Aufnahme der für die In-
strumentalmusik so notwendigen sogen. „temperierten")
eines ihrer schönsten Neize, des absoluten Wohlklanges
sich beraubt habe", er erkennt den Dorzug der Zn-
strumental-Alusik vor der Vokalmusik vornehmlich
darin, daß sie — während sie ihr an Schönheit des
Rlanges und hinsichtlich ihrer akustischen Rorrektheit
unbedingt nachstehen muß, dieselbe an Vielseitig-
keit des Ausdruckes doch weit übertrifft. „Unsere
Ansprüche an die Musik sind offenbar geringer ge-
worden in Bezug auf natürlichen wohllaut, sehr groß
dagegen in Bezug auf das in ihr liegende Ausdrucks-
vermögen innigster und leidenschaftlichster Grregungen."
„Die moderne U'lusik hat sich von der ausschließlichen
Rücksicht auf das sinnliche wohlgefallen an ange-
nehmen Alängen weit entfernt und in vernünftiger
absichtlicher ^tilentwicklung zu einem Ansdrucksmittel
ersten Ranges emporgebildet, durch welches uns alle
Gegensätze der inneren und äußeren Melt: Aampf
und Frieden, Derlangen und Grfüllung, lVonne und
Derzweiflung u. s. w. charakteristisch symbolisiert werden.
Die sinnliche Schönheit des Rlanges ist nur noch ein
Teil dieser Musik, welcher zu Zeiten stärker hervor-
treten kann, andrerseits zu Gunsten der symbolischen
Zdee manchmal fast ganz aufgegeben wird." „Durch
die Linführung der temperierten ^timmung und der
damit zusammenhängenden Thromatik und durch die
Anwendung der Znstrumente, welche den Umfang des
verwendbaren Tonmaterials nach ^ähe und Tiefe hin
bedeutend erweiterten (dies namentlich ist wichtig!),
wurde der Amsik neben einer fast unbeschränkten
harmonischen Modulationsfähigkeit eine ungeheure
Manichfaltigkeit der Bewegungen ermöglicht. Die
Tntwickelungsfähigkeit der Zcklusik nach der Seite der
Bewegung, d. h. der Vielartigkeit der rhythmisch
melodischen Zeichnungen hin (Kontrapunktik) erscheint
nach der Natur unseres Ghres (im Gegensatz zum
Auge!) als fast unbegrenzt; durch die verschiedenen
Alangfarben der Znstrumente wird ihm die Aufgabe,
komxlizierte Bewegungsformen zu sondern, noch wesent-
lich erleichtert." „Die ganze Tntwicklung der modernen
Musik bis auf unsere Tage läßt sich auch im Wesent-
lichsten als eine Lntwicklung der Bewegung in ihr
bezeichnen. was aber die Ausbildung der Bewegnng
für den Ausdruck bedeutet, können wir ermefseu, wenn
wir beisxielsweise Aompositionen Palestrinas mit solchen
von Z. S. Bach in Vergleich stellen. Dem absoluten
Wohllaut der Lsarmonien und der krystallenen Alar-
heit der Stimmenführung steht dann ein fast unüber-
sehbarer Reichtum rhythmischer und tonaler Kguren-
zeichnungen entgegen, eine sede selbständig gebildet
und doch alle zu einem unauflöslichen Geflecht ver-
bunden. Auf der einen ^eite empfangen wir den
Lindruck einer unbewegten, von Leid und Freud
gleichmäßig entfernten monumentalen Lrhabenheit,
auf der andern blicken wir in eine ganze N)elt von
Stimmungen, in welchen wir uns selbst und unsere
Gefühle wiederfinden." „Ls leuchtet also ein, daß

die Znstrumentalmufik, wenn sie auch dem verlangen
unseres Ghres nach absoluter Neinheit der Lsarmonie
nicht vollkommen Genüge thut, dafür eine andere
Fähigkeit desselben — die Auffassung rascher und
oielseitiger Bewegungen — in höhere Thätigkeit ver-
setzen kann. Das erkennende Trennen und Verbinden
der melodischen Bewegungszüge, in welchem die Auf-
fassung der Instrumentalmusik begründet liegt, dürften
wir als eine geistige Arbeit, zu deren Ausführung
Lrziehung und innere Zusammenfassung nötig ist,
vielleicht höher anschlagen, als das vergnügen, welches
die Schönheit reiner Harmonie uns gewährt." „Die
unbegleitete vokalmusik brauchte übrigens gar nicht
durch sie zu verlieren, und vielleicht werden in Zukunft
die Bedingungen für sie wiedergeschaffen werden,
von deren Lrfüllung ihre rechte wirkung abhängt."
Rurz, „nehmt alles nur in allem": „Zn der möglichst
vollkommenen Belebung auch der kleinsten und un-
scheinbarsten Teile durch rhythmisch melodische Be-
wegung und Zeichnung, auf welche die Stilentwicklung
der modernen Znstrumentalmusik vorzugsweise
gerichtet ist, beruht ihr Reichtum, ihre Tiefe; in dem
nach allen Seiten hin überflutenden Leben bewegter
Tongestalten liegt ihre Ähnlichkeit mit der Natur, ihr

— wenn der Ausdruck gestattet ist — universeller
Lharakter." Ganz gewiß geht der verfasser hier und
dort in seiner Untersuchung etwas über das Ziel
hinaus, sa, er verläßt zeitweise den gesunden Boden
einer streng exakten Forschung, um sich dafür in
poetisch-phantasievollen Umschreibnngen des wissen-
schaftlichen sDroblems zu ergehen — wobei er aber
namentlich die feine Unterscheidung vom besonderen
und allgemeinen, subsektiven und objektiven Znhalt
der Uttisik nicht immer sorgsam genug im Auge be-
halten hat — allein er hat Grell gegenüber doch ein
entscheidendes Rloment glücklich hervorgehoben nnd
damit ein für allemal einen kräftigen Anftoß zur
UAderlegung Grells und seiner ^chüler gegeben. —-
Vielleicht aber liegt deren Zrrtum doch auch noch
an anderer Stelle, als dort, wo ihn Grdenstein ge-
sucht hat. Oder sollte das eigentlich Fehlerhafte
dieser ganzen Richtung nicht schon in dem einen Satze
gelegen sein: daß „die Natur selbst zu der Aunst ge-
leitet habe, die Sprache zum Gesange zu xotenzieren
durch die Abmessung der Zeiten und ck>timmklänge zu
Rhythmus und Harmonie?" L)ier ist es denn auch,
wo die Schrift eines anderen Schriftstellers einsetzt,
die jedem gebildeten Rlusikfreunde warm zuempfehlende
Abhandlung „wie hören wir Musik?" von Rie-
mann, welche auch ihrerseits — obwohl der ^chwer-
punkt ihrer Untersuchungen auf anderem Gebiete liegt

— Grells Anschauungen zu widerlegen, oder doch
auf ihr gebührendes Maß zurück zu führen sucht.
Unseres Lrachtens sehr treffend heißt es dort: „Der
Grundirrtum Grells, aus dem sich alles weitere sodann
nur als begreifliche Ronsequenz ergiebt, ist die Annahme,
daß die Rlusik sich aus der ^prache entwickelt habe,
während doch gerade das Rmgekehrte wahr sein
muß. Lntsteht wirklich der Gesang durch ^teigerung
der Rede, oder aber ist vielleicht ursprünglich die
Rede nur verblaßter Gesang?" „Das wort ist nichts
anderes, als ein konventionelles Symbol zur Bezeich-
nung eines konkreten Gegenstandes oder eines abstrak-

I ten Begriffes. Natürlich sind die konventionellen >

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