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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 20
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Avenarius, Ferdinand: Von der Freude am Kunstwerk
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0288

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denden Menschen gar oft gezogen. So gewiß aber
die künstlerisch Beanlagten und Gebildeten seltener
sind, als die ästhetischen Barbaren, so gewiß ist die
entgegengesetzte Fälschung weit häufiger und in weit
reineren Beispielen zu finden: jene des Urteils über
das wie durch das stofsliche Interesse.

<Lin vorzügliches Beispiel dasür, wie sehr wir auf
der Lsut sein müssen, wollen wir nicht durch stoffliches
Interesse in der Lchätzung des „Runstwerts" eines
Bildes beirrt werden, ward bei anderer Gelegenheit
bereits im „Aunstwart" erwähnt. wir sehen das
Bildnis eines jungen Mannes und genießen es jetzt
vielleicht mit rein künstlerischer Freude. Nun sagt
uns Liner: es ist das Lelbstporträt Naffaels. Sofort
interessiert uns der gemalte junge Nlann viel mehr,
und das Bild fesselt uns ungleich kräftiger — und
ist doch ganz dasselbe geblieben. Der Ungeübte aber
wird ohne weiteres das Bild, das ihn am meisten
„packt", auch für das beste Bild halten. Und nicht
immer liegt die Sache so klar. Besonders, wenn
unsere mächtigsten Gefühle durch den Gegenstand
eines Runstwerks erregt werden — die religiösen, der
vaterlandssinn, die Liebe, oder auch die niedrigen der
Sinnlichkeit u. s. w. — wird selbst der „Fachmann"
oft genug Nlühe haben, sich den Uopf ganz klar zu
halten. Ls wäre sonst unbegreiflich, daß z. B. einige
unserer patriotischen Gedichte, die als poesien be-
trachtet wahrhaft jämmerlich sind, trotzdem selbst bei
ernsteren Leuten wirklich auch für gute Gedichte
gelten; unbegreiflich, wie die klar auf der Gberfläche
liegenden Atängel mancher unserer Siegesdenkmäler
auch von der Rritik so lange übersehen werden
konnten. Die Lmstgefühle, welche die vaterlandsliebe
erweckten, übertönten eben hier die Unlust an den
B'längeln der Runstleistung.

Nun möchte ich nicht mißverstanden sein, als hielte
ich jedes stoffliche Interesse an einem Runstwerk für
vom Uebel. Das wäre schon deshalb eine Thorheit,
weil es im letzten Grunde kein U)as und kein U)ie
giebt, weil die ganze Unterscheidung von Form und
Gehalt nur ein schwebendes Ding ist, nur eine Lr-
leichterung des Verstehens und Verständigens. Form
ist die Art des verbindens, Gehalt, Ltoff ist das auf
irgend eine Art Verbundene selbst — aber wir müßten
auf Atome zurückgehen, wollten wir das wirklich Lin-
fache finden, denn das Verbundene besteht eben immer
wieder aus angeordneten Teilen, und aus Teilen be-
steht wieder jeder Teil. Deshalb lassen sich die Be-
griffe Form und Inhalt beliebig höher und tiefer setzen;
es bedarf eines stillschweigenden oder ausgesprochenen
Uebereinkommens in dieser Beziehung den einzelnen
werken gegenüber, soll unser Gespräch nicht Stroh
dreschen. Auch ist die wirkung eines Uunstwerks ein
höchst zusammengesetztes Ding: das sinnliche wohlge-
fallen an Farb und Lmie oder wohlklang oder Nhyth-
mus u. s. w. trägt dazu bei, wie das Lrinnerungen
thun und hundert bewußte und unbewußte Gedanken-
und Gefühlsverbindungen, Assoziationen. Aber von
all dem haben wir heut nicht zu sprechen. worauf
wollen wir hier hinaus?

Darauf, daß wir unserm Lserrn Nlüller, wie un-
serer Frau Lchulze sagen: Ihr seid alle Beide einseitig
und Reines von Luch kommt auf seine weise zum
wahren Nunstgenuß. weder die Freude an der bloßen

Technik thut es, an der „Mache", wie sie aus sehr §
natürlichen Gründen besonders von den Nlalern oft weit
als das wichtigste geschätzt und nahezu ausschließlich em-
pfunden wird, noch das Gefallen am Ltoff, am Vorwurf,
den sich der Rünstler wählte. Ich mag mich an der
guten Technik eines schönen Landschaftsbildes noch so
sehr erfreuen, ich bleibe damit doch nur auf einer
vorstufe des Genusses und ich mag seine Bäume uud
Häuser noch so gern besehen, wie der Neisende sie
besieht, ich genieße deshalb lange noch nicht die Runst.
Denn weder der Gegenstand, der dargestellt werden
soll, macht diese aus, noch die wiedergabe mit dem
Ltreben nach möglichster Genauheit. „Nun", sagt
kserr Nlüller, „ich empfinde aber meine helle Freude
daran, zu sehen, wie weit man es heutzutage in dem
vermögen gebracht hat, die Lrscheinungen der Natur
genau so wiederzugeben, wie wir sie erblicken." „Und
hab ich keinen hohen Genuß", sagt Frau Lchulze,
„wenn ich beim Anblick Ihres waldseebildes mich
ganz an einen waldsee hinversetzen kann?" Den
Beiden müßt' ich schon von einem dritten Beschauer
jenes Bildes erzählen, um ihnen klar zu machen, daß
es, so schön und berechtigt ihre Genußarten sind, doch
noch eine andere und zwar eine solche von unver-
gleichlich größerem werte für uns Nwnschen giebt.

Dieser dritte Beschauer, der schon früher jenes
Bild gesehen hatte, sagte, als ich ihn gestern traf:
„mir ist, als empfänd ich jetzt erst die ganze Lchön-
heit unseres s)arksees — gleichsam als hätte mir
jenes Bild erst die Augen aufgemacht." Das hieß:
meine Fähigkeit, die welt zu sehen und zu empfinden,
ist durch ein Nunstwerk erweitert. Da liegt's. Die
Bereicherung unseres Weltbetrachtens mit neuen An-
schauungen, die Lrweiterung unseres welt-
Lmpfindens, das ist die Leistung der Nunst für
den Verstehenden, wie die Lrweiterung unseres welt-
Dsnkens die Leistrmg der wissenschaft. „Die Nunst
soll uns schanen lassen, was wir, verhindert durch
die Schwäche mrd Lnge unseres geistigen Lsorizonts
nicht zu sehen vermögen," so faßte in diesen Blättern*
der treffliche k^orwicz die Aufgabe der Runst, und er
dachte dabei nicht blos an das sinnlich wahrnehmbare,
sondern auch an die „geistige, sittliche, seelische Natur."

wodurch aber kann der Nünstler so bedeutende
wirkungen erzielen? Dadurch, daß er ein Ltück
Natur oder Leben vor uns hinstellt und es uns im
Zimmer anschauen läßt, wie wir es sonst vielleicht
im Freien betrachten könnten? Thät er nichts weiter,
er gäbe uns nur Nenntnisse, besten Falls solche,
die wir sonst nicht erwerben könnten aus räumlichen
oder zeitlichen Gründen: Nenntnisse fürs Auge, fürs
Ghr, oder auch fürs Gedächtnis — jene wunder-
same wirkung aber könnten Nenntnisse gewiß nicht
erreichen. Gder gewinnt er sie dadurch, daß er uns
zeigl, mit welchen Niitteln er diese Renntnisse gleich-
sam aufzeichnet, mit welcher Technik er das Natur-
stück uns wiedergiebt? Das ist für seine Fachgenossen
schon deshalb sehr wertvoll, weil es das Linzige ist,
was sich prüfend verfolgen und lernen läßt, — daß
es aber jenes Lrgebnis herbeizuführen vermöge,
wird kein N'lensch im Lrnste annehmen wollen.

Dies vermag nur Lines: daß uns ein nach be-
stimmter Nichtung höher und feiner entwickelter Geist
* cheft 9.

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