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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 20
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0290

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Ropfschütteln bewirken wird — so schätze ich seine
Lyrik doch noch höher. wer gewohnt istz Gedichte
zu lesen, wie man den neuesten Moderoman liestz der
wird freilich die Stormschen l?erse überhaupt kaum
schön sinden, ja, in ihrer Mehrzahl der wahrschein-
lichkeit nach langweilig und alltäglich: es ist ja so
gar nichts „Lsfektvolles" darin. wer aber jeden Tag
in beschaulicher Stimmung, aber nicht bei halb schlasen-
dem, sondern bei wirklich wachem Ropse eines oder
zwei der besten Stormschen Gedickte liest und wieder
liest und innerlich nachzubilden und nachzusühlen ver-
steht, der wird sür Iahre gewonnen haben, was er
aus ihnen empfing. Äe begleitet uns durchs Leben,
die Wannesgröße dieses „Oktoberlieds", haben wir
sie nur einmal durchempfunden. Und diese „Frauen-
ritornelle", dieser „Trost", das „Begrabe nur Dein
Liebstes" und wohl noch zehn bis zwöls der anderen
— das sind Gedichte, die mit dem Beichtum und der
Rrast ihrer Beziehungen und ihrer Durchgeistigung
jeden worts ebenbürtig hintreten neben die schönsten,
die unsere Sprache überhaupt erschus.

wir dürsen es wiederholen: es ist ein Großer
dahingegangen. A.

Tbeater.

* Mrlwanpt über „lraturallstisebe" Dra-

MeN sprechen zu hören, ist schon wegen der littera-
rischen Stellung dieses Dramaturgen lehrreich und
wichtig. D>n t7. Lseste der „Blätter s. litt. Unter-
haltung" beleuchtet er Tolstois „Macht der Linsterniß",
Ibsens „wildente" und Zolas „Renee" in einem
längeren Aussatz, der auch zu allgemeineren Bemerk-
ungen häufig den Anlaß giebt. Lr beginnt mit der
Leststellung der Thatsache, daß man jetzt die wahrheit
mehr und mehr nur noch im Häßlichen zu finden
glaube. „Neberkommt uns dann selbst bei der er-
gebensten Bewunderung der Arast und des Rönnens
dieser neuen Propheten ein gelinder ^chauder vor der
^cheußlichkeit dieser welt, so dars man die Antwort
gewärtigen, so und nicht anders sei das Leben be-
schaffen; und wagt man dann den Tinwand: gewiß,
aber doch nicht ganz und ausschließlich so, dann wird
der Beweis zum vorschein kommen. Sein Thema ist
gemeinhin die Tntwicklungslehre, die Lehre von der
Lrblichkeit und Umbildung, an die ich persönlich un-
bedingt glaube, und genügt auch dies nicht, unsere
Bedenken ganz zum Schweigen zu bringen, dann
entpuppt sich der Woralist im Aünstler und erklärt,
er wolle abschrecken und durch Abschreckung bessern.
Ts ist also das umgekehrte versahren. Lrüher besserte
man durch tugend-, jetzt durch lasterhafte Beispiele.
So und ähnlich ist es auch mit den drei Dramen be-
stellt, die hier vereinigt werden. Ls ist keins unter ihnen,
das nicht an der Alaue den Löwen erkennen ließe; aber
ebenso gewiß sind sie ungeachtet der genialsten Linzel-
heiten samt und sonders trotz alles »Naturalismus«
von der wahrheit ebensoweit, wie von der Schönheit
verschlagen, und um die unbefangene Lreude am
Runstwerk betrügen sie uns gründlich."

Bulthaupt sucht nun sein Urteil durch die Aritik
der einzelnen Dramen zu begründen. Tolstois „Macht
der Linsternis" erkennt er zwar als eine unansecht-
bar glaubwürdige Ättenschilderung sür die einzelnen
Gestalten an, wenn er auch das Zusammendrängen

solcher Lülle von Gemeinheit auf einen so kleinen
Lleck Lrde für unwahrscheinlich hält — nicht aber
als ein dramatisches Runstwerk. Ls stelle nur eine
Aneinanderreihung von Szenen dar, deren einzige
wirklich dramatische, die letzte, gerade der psychologischen
wahrheit ermangele. „Der Nikita der ersten Akte
gab uns nirgends einen Anhalt dafür, ihm ein solches
Opfer zuzutrauen; die wendung beweist also nur,
daß dem Autor selbst das Gefühl gekommen sein muß,
es bedürse eines Zutritts srischer Lust, damit die Leser
mit diesem Bauergesindel in seiner Üloake nicht er-
stickten." Aber die Schilderung jener trostlosen Der-
hältnisse hätte doch immerhin den vorzug, wie wahr-
heit aus uns zu wirken, „der dem Geständnis des
Nikita nnd seiner blitzschnellen, sittlichen Läuterung
sehlt." „Der verfasser hat uns also zwar eine Neihe
abstoßender, doch immerhin interessanter Typen aus
dem russischen Bauernleben gezeichnet, aber er hat
uns durch die (unwahrscheinliche) wlasse der Gemeinheit
ästhetisch beleidigt und das wichtige, ja das eigentliche
Amt des Dramatikers, das der psychologischen Lnt-
wicklung der Lharaktere in einem Abschnitt, welcher
in dem Stück selbst Ansang und Lnde findet, hat er
nicht oder doch nicht überzeugend geübt. Denn man
rede nicht davon, daß es sein Thema gewesen sei,
uns zu beweisen, daß es der Lluch der bösen That
ist, sortzeugend immer Böses zu gebären. Zn welcher
Tragödie sände sich dies Thema nicht, das alltäglichste
und selbstverständlichste von allen, und was kümmert
uns überhaupt ein Beweis im Runstwerk!"

Nun wendet sich Bulthaupt zu Zbsen, den er
unbedingt als einen bedeutenderen Dramatiker, als
Tolstoi, hinstellt. „Za, er ist der größten und genial-
sten einer, und die Dramen seiner ersten periode, die
»Nordische Heersahrt« und die »Nronprätendenten«
haben mich kaum weniger gepackt, als sein großartiges,
symbolisierendes, dramatisches Gedicht »Brand« und
einige der sozialen, dem Leben der Gegenwart ent-
nommenen Dramen, in denen er einen an sich zwar
nicht künstlerischen, aber der Runst heilsamen Rampf
der wahrheit gegen die Lüge in zahlreichen wendungen
sührt. Die drastische Satire im »Bund der Zugend«,
die »Stützen der Gesellschaft« trotz ihrer übergroßen
Breite und ihres ansechtbaren Ausgangs, die beiden ersten
Akte der »Nora«, der »volksseind« bis zu der Volks-
versammlung — sie strotzen von dichterischem Leben
und sind mit dem Stempel der Nleisterschast gezeichnet.
wie e-s aber immer zu gehen pslegt, daß sich die Lin-
mischung eines der Nunst fremden Llements in das
Nunstwerk an diesem einmal doch rächt, so hat der
moralisierende Hang Zbsens und das »akute Recht-
schaffenheitsfieber«, an welchem er mit dem ver-
schrobenen Gregers in der »wildente« leidet, ihm die
Unbesangenheit des Schasfens getrübt, und dies ganze
Drama ist nur ein Beweis dafür, daß aus dem
Dichter, der ein wahrheitssucher und -Rämpfer sein
wollte, der jede Phrase verachtet und brandmarkt und
jeder Lüge die Larve vom Gesicht reißt, ein wahr-
heitssüchtiger geworden ist, ein wlann, der wie ein
Arzt überall Nrankheiten aufspüren will, bis er
schließlich nirgends mehr ein heiles Lleckchen findet.
Man kann getrost und mit vollster Ueberzeugung
seine Ansicht teilen, »daß die naturwissenschastliche
Lehre von der Lvolution auch aus die geistigen Lebens-

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