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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 21
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Kirchbach, Wolfgang: Poesie und Rhetorik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0306

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Dagegen ist in der Dichtung die Hyperbel
keineswegs Runstgriff, sondern soll, wo sie in reinem
Sinne angewendet wird, immer nur ein Leidenschasts-
ausdruck sein, soll also nicht sowohl technische Form,
als vielmehr geistiger Inhalt sein und nur da-
durch wird sie poetisch. Sie ist demgemäß in der
Dichtung (sei es <Lpik, Lvrik oder Drama) immer nur
eine Nachahmung der leidenschaftlichen vorgänge,
welche auch im wirklichen Leben eine vergrößerung
und Übersteigerung der natürlichen Lrscheinungen durch
eine erhitzte Linbildung heroorbringen. wo das Rraft-
maß der Leidenschaft im richtigen Verhältnis steht zum
Aufwande von vergrößerter Linbildungskraft, da wird
auch die khyperbel im eigentlichen Linne poetisch
sein. Sie ist dann aber nicht ein Runstgriff wie
beim Nedner, sondern fällt unter den Namen eines
Naturlautes.

Hyperbeln als Runstgriff in irgend einem Sinne
zu verwenden macht aus dem Dichter sofort einen
„Rhetoriker", einen Redefälscher und Runstfälscher.
Denn die bsyperbel in diesem Sinne anzuwenden
widerspräche dem Zweck der Dichtung, welche uns im
Genusse ihrer selbst, d. h. ihres Gegenstandes erhalten
will. Darum bedient sich die Dichtung durchaus einer
eigentlichen Nedeweise, bei weitem mehr als die
Nedekunst. Die Dichtung muß alle worte in der
ihnen ursprünglich innewohnenden Bedeutung
nehmen. Der Glaube der meisten Menschen nimmt
allerdings das Gegenteil an. !Nan meint, weil die
Dichtung oft Nletaphern, Gleichnisse und andere so-
genannte uneigentliche Ausdrücke braucht, sei die
dichterische Nedeweise uneigentlich. Dies ist aber nur
ein Lchein. Dies ist nur wahr vom Ltandpunkte
gerade des Nedners aus, des j?rosaikers, des verstan-
des. Lür den Dichter aber, d. h. für seine Linbil-
dungskraft, für seine unbefangene Betrachtung der
wirklichen Lrscheinung ist gerade der sogenannte
metaphorische, übertragene Ausdruck der eigentliche;
weil der Gesichtspunkt, unter dem der Dichter die
Dinge betrachtet, da sein Material die Linbildungskrast
ist, ein anderer ist, als der des anschauungslosen verstandes.

Liner eigentlichen Nedeweise sich zu bedienen
ist daher das oberste Grundgesetz und die oberste
Runstsatzung der Dichtung. Ls ist es deshalb, weil
die Dichtung uns im Lelbstgenuß der Dinge erhalten
will, von denen sie handelt; weil sie nicht über sich
selbst hinausweist, wie die Nedekunst, welche den
willen auf einen bestimmten Zweck hinlenkt, son-
dern, weil die Aufnahme einer Dichtung und
ihres Znhalts künstlerisch wie sachlich auf sich selber
ruht. Darum muß die Dichtung durchaus eigentlich
verfahren im Geiste der Linbildungskraft und alle Tropen,
Figuren, Gleichnisse, alleMetonymien, Nietaphern und
sonstigen Nedeformen sind in der Dichtung nicht sowohl
Formen der Nede, sondern ein wahrhaftiger Znhalt
geistiger Art.

wo in diesem allgemeinsten Sinne die betreffenden
scheinbaren Lprachwendungen aus dem Gesetze einer
wahrhaftigen Linbildungskraft sich natürlich ergeben,
werden sie immer poetisch sein. Lowie sie aber in
irgend einem Linne das Gepräge einer äußeren
Lprachform tragen, welche entweder nur zufällig oder
übereinkömmlich hereinspielt, sowie sie einer un-
geregelten Linbildungskraft oder dem Nkangel an

Linbildungskraft entspringen, so wie sie, statt jenem
Allgemeinzwecke der Dichtung zu dienen, nur als ein
Lpiel um ihrer selbst willen erscheinen oder sich gegen-
seitig widersprechen und aufheben, womit sie die
Fähigkeit, sie innerlich anzuschauen, zerstören: in all
diesen Fällen wird man mit Grund von Nhetorik im
üblen Sinne reden: wird statt der poesie und statt
des poetischen Nedefälscherei entstehen, wenn die
Nüttel im Uebrigen geistlos gehandhabt sind. Liegt
aber irgend ein andrer Zweck des öffentlichen Lebens
dahinter verborgen, so wird unter Nmständen das
poetische Lrzeugnis zu einem Gebilde der Nedekunst,
das dann trotz Reim und Nhythmus seinen Namen
als Gedicht nur mit Unrecht trägt. Also auch die
Lsyperbel hat der Dichter vielmehr eigentlich zu be-
handeln d. h. er darf gewissermaßen gar nicht das
Bewußtsein haben, daß es eine vergrößerung ist,
während der Nedner, welcher Lffekt zu machen
trachtet, sie sogar im Vortrage sehr oft so zu geben
hat, als meinte er sie nicht ernst. Die Ligentlich-
keit einer Lsyperbel bestimmt sich, sofern sie poetisch
ist, demgemäß daraus, daß das Rraftmaß der Leiden-
schaftsbewegung mit dem übertriebenen Vorstellungs-
bilde in einem bestimmten Derhältnis steht. Lo z. B.
Lsamlets üvperbel:

,,Der 5paß lst, wenn mit seinem eignen Pulver
Der Feuerwerker auffliegt; und mich trügt
Die Rechnung, wenn ich nicht ein Rlafter tiefer
Als ihre Minen grab' und sprenge sie
Bis an den Mond."

^ier ist eine Ueberschlagung der vorstellungskraft,
eine ^yperbel, welche doch vollständig poetisch ist.
Denn es ist ein wort des durchtriebenen Nachedurstes,
welcher auch im wirklichen Leben die Linbildungs-
kraft zu ungezähmten Bildern treibt. Dieser Ausdruck
„Bis an den Nlond!" ist für die Leidenschaft eigent-
lich, wenn auch der Verstand zehnmal hinterdrein
kommt und die erfahrungsmäßige Unmöglichkeit, mit-
hin das Lsyperbolische einsieht. Die Nache ist's, welche
dies Bild im Lsirn emportreibt, um sich zu entlasten,
um die Gedrängtheit des Gefühls durch eine ent-
sprechende ungeheuerliche Vorstellung zu erleichtern.
Ls ist also ein wahrhaftiger psychologischer Vorgang;
es ist ein Naturlaut. Demgemäß nennen wir dies
eine poetische Hyperbel, denn sie entspricht ganz
dem unmittelbaren, eigentlichen wesen der j)oesie.

^ier nun gleich daneben eine rhetorische, eine
schlechte Lsvperbel. Lie stammt wie so viele un-
geschickte verhunzung der poetischen Nkittel von bseinrich
kseine („Die Nordsee"); ich bitte dazu das ganze Ge-
dicht zu lesen:

Mit leichtem Rohr schrieb ich in den Sand:

„Agnes, ich liebe Dich!"

Doch böse wellen ergossen sich
Über das süße Bekenntnis
Und löschten es aus.

Zerbrechliches Rohr, zerstiebender 5and,

Zerfließende wellen, euch trau ich nicht mehrl
Der bsimmel wird dunkler, mein lherz wird wilder,

Und mit starker bsand aus Norwegs WLldern
Reiß ich die höchste Tanne
Und tauche sie ein

In des Aetnas glühenden Schlund, und mit solcher

Feuergetränkten Riesenfeder

Tchreib ich an die dunkle ksimmelsdecke:

,,Agnes, ich liebe Dich!"

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