Nummer 276.
Neuer
Mittwoch, 22. November 18S3.
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* Vom Reichstage.
So erfreulich es war, daß der Reichstag sich
gleich am ersten Tage in beschlußfähiger Zahl
zusammenfand, so unerfreulich ist es, daß er seine
Thütigkeit damit beginnt, sich acht Tage Ferien
zu geben; denn in Wirklichkeit wird diese „Stu-
dienpanse" wohl darauf hinauskommen, daß die
meisten Abgeordneten wieder nach Hause reisen.
Sachlich begründet ist eine so lange Pause vor
dem Eintritt in die erste Berathung der Handels-
verträge keineswegs. Diese drei Verträge bilden
ja einen starken Baud mit einer großen Menge
von Einzelheiten, aber einen vorläufigen Ueber-
blick über das Material, wie er für die gänzlich
unverbindliche erste Lesung genügt, hätte bis zum
heutigen Tage, deni vom Reichstagspräsidenten in
Aussicht genommenen Termin, ein Jeder gewinnen
können. Da die Konservativen bereits einen An-
trag auf Verweisung der Vertrüge an eine Kom-
mission ankündigten, so brauchte man ja nur auf
deren Antrag einzugehen, um die Vermeidung
jeder konkreten Stellungnahme in der ersten Le-
sung vollkommen gerechtfertigt erscheinen zu lassen.
Die Verträge mit Rumänien und Serbien sollen
am 1. Januar in Kraft treten, müssen also im
Reichstage vor den Weihnachtsserien erledigt sein.
Kommt nun die Verzögerung durch eine Kom-
nnssionsberathung dazwischen, so ist angesichts der
Kürze der zur Verfügung stehende Zeit allerdings
so zu sagen kein Augenblick zu verlieren, und man
begreift, daß die Regierung auf den Beginn der
Berathung am Montag einen großen Werth
legte. Die Frage ist, wie aus parlamentarischen
Kreisen geschrieben wird, was nach der ersten Le-
sung der Handelsverträge zunächst an die Reihe
kommen soll, ob die Steuervorlagen oder der
Etat. Kommt der Etat zuerst zur Verhandlung,
dann hat es die Opposition in der Hand, den
Beginn der Finanzresormberathung ein gut Stück
hinauszuschieben, möglicherweise ihn vor Weih-
nachten überhaupt zu vereiteln. Eine Hinaus-
schiebung der erster Lesung der betreffenden Ent-
würfe bis nach Neujahr aber würde zweifellos
eine wesentliche Erschwerung ihres Zustande-
kommens bedeuten.
Deutsches Reich.
Berlin, 21. November.
— Die drei Präsidenten des Reichs-
tags sind heute Mittag 12 Uhr vom Kaiser im
Neuen Palais bei Potsdam empfangen worden.
Die Audienz hatte keinen politischen, sondern einen
rein geschäftsmäßigen Charakter. Der Kaiser, der
die Uniform des Leib-Garde-Husaren-Regiments
trug, empfing die Herren in huldvollster Weise.
Er befragte den Präsidenten von Levetzow über
seine Pläne bezüglich der Arbeiten des Reichstags
und wünschte denselben einen guten Erfolg. Darauf
berührte der Kaiser im Gespräch mit den einzelnen
Herren deren heimathliche und persönliche Ver-
hältnisse. Die Audienz währte etwa 15 Minuten.
Gleich darauf wurden die Herren von der Kaiserin
empfangen. Nach einer Unterhaltung von etwa 10
Minuten war der Empfang beendet. Um 1 Ubr
15 Minuten waren die Herren nach Berlin zurück-
gekehrt.
— Den Abendblättern zu Folge sprach der
Kaiser bei dem Empfang des Reichstags-
präsidiums zum Präsidenten v. Levetzow von
den Handelsverträgen sowie über die Unterhand-
lungen wegen des Handelsvertrags mit Rußland,
welcher nicht so schnell zu Stande zu bringen sei,
als vielfach gewünscht wird. Frhr. v. Buol,
den ersten Vizepräsidenten, fragte der Kaiser nach
dem Ausfall der Weinernte und bemerkte auf
dessen Erwiderung, daß sie hätte besser sein können,
man klage wohl nur, weil die Weinsteuer in Sicht
sei. Dr. Bürklin, den zweiten Vizepräsidenten,
beglückwünschte der Kaiser wegen des auf dem
Karlsruher Hoftheater zur Darstellung gebrachten
„Berlioz-Cyklus", wovon ihm viel Löbliches er-
zählt worden sei.
— Den Morgenblätter zufolge enthält der
vom Bundesrath angenommene Weinsteuer-
gesetzentwurf einige Abänderungen des ur-
sprünglichen Entwurfs. In der Definition des
Naturweins ist der Tresterwein gestrichen. Schaum-
weine sind alle in verschlossenen Flaschen in den
Verkehr gelangende Schaumgetränke ous Trauben-
wein, Obstwein, Beerenweinen oder weinhaltigen
oder ähnlichen Stoffen. Weine aus frischem Obst
und frischen Beeren sollen nur als Kunstwein
gelten, wenn sie nach dem Weinverkehrgesetz als
verfertigt anzusehen sind. Steuerpflichtig für
Kunstwein soll der Eingangszollpflichtige oder der
Hersteller sein. Das Gesetz soll am 1. Dezember
1894 in Kraft treten.
— In einer Korrespondenz für Cen-
trumsblätter lesen wir: „Zunächst muß fest-
stehen, welche neuen Steuern bewilligt werden und
welche Erträge aus ihnen zu erwarten sind, und
dann erst kann man dazu übergehen, zu überlegen,
in welcher Weise die so gewonnenen neuen Ein-
nahmen für eine Finanzreform nutzbar gemacht
werden können. Deshalb würde es richtig erscheinen,
wenn man die Berathung der Reichs-Steuerreform-
Vorlage mindestens bis nach Beendigung der zweiten
Lesung der neuen Steuervorlagen verschöbe. Wenn
jemals ein Ueberhasten vom Nebel war, so ist das
jetzt in der obne Frage höchst schwierigen finan-
ziellen Lage, in welcher das Reich Dank dem echt
„staatsmännischen" Vorgehen der Reichsregierung
und der Reichstags-Mehrheit von diesem Sommer
sich gegenwärtig befindet. Wenn die Miquel'schen
Offiziösen neuerdings in allen Tönen die schwierige
Finanzlage in Preußen auseinandersetzen, um bei
den Reichstags-Mitgliedern aus Preußen Stimmung
zu machen für die Ueberwcisung jener 40 Mill.
Mk. an die Einzelstaaten, so ist zu entgegnen, daß
zur Zeit die Finanzlage des Reiches noch viel
schlechter ist. Sie würde ganz unhaltbar werden,
wenn man nach Miquel'schen Rezepten nun dem
Reiche auch noch das Recht nehmen wollte, im
Nothfalle auf die Matrikularbeiträze der Bundes-
staaten zurückzugrcifen."
— Ueber den neugwähltsnAbg.Fürst
v. Fürstenberg streiten sich Konservative und Na-
tionalliberale. Derselbe hat, wie bereits mitge-
theilt, einen Platz unter den Nationalliberalen
belegt. In der „Post" wird dies jetzt dahin,
erklärt, daß der fraktionslose Abgeordnete nur
die Wahl gehabt habe zwischen einem Platz auf
der äußersten Rechten, auf dem man schlecht
sehen und hören könne, zwischen dem Platz des
Abg. Ahlwardt und dem Platz unter den Na-
tionalliberalcn. Irgend eine politische Bedeutung
könne diese Platzwahl nicht beigemessen werden.
— Die erfreulicher Weise wieder in der Ab-
nahme begriffene Erkrankung des Königs von
Sachsen, des einzigen noch überlebenden Heer-
führers aus dem letzten großen Kriege, hatte hier
überall, am Hofe, in den militärischen und poli-
tischen Kreisen, wie in weiten Schichten der Be-
völkerung die größte Theilnahme geweckt. Der
Kaiser hat sofort, nachdem er davon erfahren hatte,
direkte Erkundigungen eingezogen und hat sich
wiederholt über alle näheren Einzelheiten unterrichten
lassen. Die sächsischen Reichstagsabgeordneten
wurden von allen Seiten mit Anfragen bestürmt
und überall vernahm man die günstige Auskunft,
die sie über das Befinden ihres Landesherr» er-
theilen konnten, mit lebhaftester Genugthuung.
Karlsruhe, 21. Nov. Auf Grund von
vor wenigen Tagen beendeten Infor-
mationen stimmten die badischen Ver-
treter im Bundesrath gegen dieWein-
st e u e r.
Karlsruhe, 21. Nov. Der größte Theil der
Abgeordneten ist zur Kammer-Eröffnung bereits
heute hier eingetroffen, um die üblichen Visiten
in den Ministerhotels u. s. w. zu machen. Am
Abend treten die Kammermitglieder im Rondel
des Ständehauses zusammen, woselbst über ver-
schiedene Formalitäten, wie Bestellung des Alters-
präsidenten, Berathung gepflogen wird. Am
späteren Abend halten die Parteien Fraktions-
sitzungen.
Ausland.
Graz, 20. Nov. Die Leichenfeier des Grafen
Hartenau begann Nachmittags 2 Uhr in dem
Trauergemach, worin die Leiche aufgebahrt war.
Pfarrer Leidenfrost gedachte in der Trauerrede der
Eigenschaften des Herzens und Geistes des Ver-
storbenen. Nach der Einsegnung der Leiche bildete
sich der Trauerzug; hinter dem Sarg schritten der
vom Kaiser von Oesterreich entsandte Flügelad-
jutant Lonyay, Prinz Heinrich von Battenberg,, der
von der Königin von England entsandte Bot-
schafter Monson, Herzog Wilhelm von Württem-
berg, Prinz Franz Josef von Battenberg. Graf
von Eberbach, die bulgarischen Deputationen, der
Stadtthalter von Kuebeck, der kommandirende Ge-
neral mit der Generalität und das Offizierkorps
sowie zahlreiche andere Leidtragende. Unter mili-
tärischen Ehren begab der Trauerzug sich nach dem
Friedhof, woselbst die provisorische Beisetzung er-
folgte. An der Gruft hielt der bulgarische Mi-
nister Grekow eine Gedächtnisrede.
Rom, 21. Nov. Ungeachtet wiederholter Er-
mahnungen des Telegraphendirektors weigerten sich
die ausständigen Telegraphenbeamten, ihre Tätig-
keit wieder aufzunehmen, und leisteten der Auf-
forderung, die Dienststuben zu verlassen, erst nach
Erscheinen der bewaffneten Macht Folge. Die
Ausständigen sind durch neues Personal ersetzt,
und der Betriebsdienst ist wieder eingerichtet worden.
Die Depeschenausträger haben die Arbeit wieder
ausgenommen. Alle Telegraphenämter der anderen
Städte sind vollkommen ruhig.
Rom, 21. Nov. Die Zahl der ausständigen
Telegraphisten beträgt etwa 200. Das Ministerium
telegraphirte nach Neapel und Florenz um Ersatz.
Die Jagd nach einer Erbin.
Roman von Hermine Frankenstein.
60) (Fortsetzung.)
Sir Lionel wußte, daß in Folge der neuen
Beziehungen, welche zwischen ihm und Beatrix be-
standen, sie sich beeilen würde, ihm Nachricht von
sich zu geben, und hielt es sogar für sehr wahr-
scheinlich, daß sie nach Folliot Court gegangen sei.
In größter Eile kehrte er dahin zurück, fand
aber, daß sie nicht dort und daß auch keine Bot-
schaft von ihr angelangt war.
Eine entsetzliche Furcht, daß ihre Feinde sie
entdeckt und sich ihrer bemächtigt haben könnten,
erfaßten ihn und er hatte nicht die Ruhe auch
nur eine Stunde in Folliot bleiben zu können.
Er bat Lady Folliot, wenn irgend eine Botschaft
Von Beatrix an ihn käme, sie zu eröffnen und
den Inhalt derselben nach Durham zu telegra-
phieren, und reiste dann wieder ab.
Am nächsten Tage kam Beatrix Brief für ihn
an, welchen die jüngere Frau Trevor in London
aufgegeben hatte.
Lady Folliot öffnete den Brief in Gegenwart
des falschen Fräulein Bermyngham und las einen
Theil seines Inhaltes laut vor.
Die Baronin beeilte sich, ihrem Neffen Bea-
trix's neue Adresse zu telegraphieren; aber er hatte
einen anderen Weg eingcschlagen, weil er glaubte,
eine Spur von Beatrix gesunden zu haben, und
war nach London gegangen zu seinem ehemaligen
Erzieher, in der Idee, daß Beatrix dort vielleicht
Unterkommen gefunden habe.
Er verlor dadurch einige Tage, und als er
endlich nach Durham zurückgekchrt, fand er da-
selbst Lady Folliots Telegramm.
Er reiste sogleich in südöstlicher Richtung ab.
Inzwischen hatte Fräulein Bermyngham be-
reits sehr viel Unheil gestiftet. Sie hatte zwei
Briefe an Oberst Brand mit verstellbarer Hand-
schrift als „Ann Jones" gerichtet, ihm darin
Bcatrix's neue Adresse mitgetheilt und einen an
seine Adresse nach London, den anderen nach Dur-
ham abgeschickt.
Und einer dieser Briefe hatte seine Mission
rascher erfüllt, als Lady Folliot's Telegramm an
Sir Lionel.
Frau Brand war wohl noch in Durham, aber
allein und erhielt daher den Brief nicht, der an
ihn gerichtet war.
Oberst und Randal Brand waren nach London
zurückgegangen, um ihre Nachforschungen dort
fortzusetzen, und sie empfingen den dahin adres-
sierten Brief, welchen sie, wie wir gesehen haben,
zu benutzen verstanden. — —
Während der arme Jones sein schreckliches
Abenteuer erlebte und Beatrix's Feinde das Netz
immer dichter um sie Herzogen, ging in Trevor-
Farm Alles seinen ruhigen Gang weiter.
Es war neun Uhr geworden und noch keine
Spur von den zurückkehrenden Dienstboten
„Sonderbar, daß sie nicht kommen", bemerkte
Esther.
„Vielleicht ist Jones etwas geschehen," versetzte
Beatrix. „Sein Pferd ist vielleicht über etwas
erschrocken und scheu geworden."
„Sein Pferd ist so alt und ruhig, daß es
nicht einmal bei einem Erdbeben scheu würde",
sagte Esther. „Jones würde sich nicht unterstehen,
ein Pferd von dem Herrn zu nehmen und die
Anderen haben die besten Ackerpserde. Dem Pferde
ist nichts geschehen; aber so sind diese Dienst-
boten! Wahrscheinlich wollten sie die ganze Nacht
wegbleiben. Sie hätten es gar zu gern gesehen,
wenn er zu Hause geblieben wäre."
Um halb zehn Uhr war Esther zur Ueber-
zeugung gelangt, daß die Dienstboten für die
Nacht nicht nach Hause kommen würden.
„Ich will die Hunde herauslassen", sagte sie.
„Sie werden uns beschützen. Wir brauchen nicht
ängstlich zu sein. Aber schieben Sie hinter mir
den Riegel vor, Fräulein. Es ist gut, wenn man
vorsichtig ist."
Die Nacht war stockfinster. Esther zündete
eine Laterne an und ging hinaus und Beatrix
verriegelte die Thür hinter ihr. Kaum war eine
Minute vergangen, als man draußen fliehende
Schritte bürte und Esther heftig gegen die Thür
schlug, aufschreiend: „Lassen Sie mich ein! Schnell!
Lassen Sie mich ein!"
Beatrix öffnete die Thür, Esther stürzt hinein
und verriegelte sie hinter sich.
„Es ist etwas geschehen, Fräulein. Als ich
mich der Hundehütte näherte, glaubte ich zwei
Männer zu sehen. Ich rief sie an, und sie ant-
worteten mir nicht. Ich dachte, es wären die
zwei Knechte Owen und Geant, die einen Streich
spielen wollen. Ich wandte mich daher zu der
Hundehütte und steckte meine Laterne hinein.
Fräulein, die zwei Hunde waren todt!"
„Was?" rief Beatrix zurückweichend. „Todt?"
„Ja, und der Schaum vor ihrem Maule und
ihre krampfhaft verzogenen Glieder beweisen, daß
sie Gift bekommen haben."
Beatrix war von dieser Mittheilung ganz er-
schrocken und dachte sogleich an ihre Feinde.
„Was heißt das, Esther?" fragte sie.
„Das bedeutet etwas Böses," sagte Esther kurz.
„Wenn sie das Haus angreifen wollen, warum
haben sie die Hunde vergiftet, die sicher in ihren
Hütten waren?" fragte Beatrix.
„Darin bewiesen sie eben die Klugheit. Die
Hunde wären auf den ersten Schrei von uns her-
ausgestürzt und hätten sie angegriffen. Die Spitz-
buben fühlen sich sicherer, wenn die Hunde todt
sind. Sic müssen beabsichtigt haben, uns zu über-
rumpeln. Vielleicht haben sic vorausgesehen, daß
ich hinausgehen würde, um die Hunde frei zu
machen, und wollten inzwischen einschlüpfen."
Das hatten die Brand's auch beabsichtigt.
Aber Esther hatte den Tod der Hunde früher
entdeckt, als sie darauf vorbereitet waren.
Beatrix glaubte in diesem Augenblicke draußen
verstohlene Schritte zu hören. Ein Rascheln wurde
unter der Thür hörbar.
Und dann ertönte plötzlich zum namenlosen
Schreck der beiden Frauen ein donnerndes Klopfen
an der Thüre!
38. Kapitel.
Die Gefahr steigt.
Lady Folliot nahm an dem schrecklichen Falle
Kaspar Voe's ungemein regen Antheil.
Das entsprang wohl daraus, weil der Mann
in ihrem eigenen Parke todt aufgesunden wurde.
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So erfreulich es war, daß der Reichstag sich
gleich am ersten Tage in beschlußfähiger Zahl
zusammenfand, so unerfreulich ist es, daß er seine
Thütigkeit damit beginnt, sich acht Tage Ferien
zu geben; denn in Wirklichkeit wird diese „Stu-
dienpanse" wohl darauf hinauskommen, daß die
meisten Abgeordneten wieder nach Hause reisen.
Sachlich begründet ist eine so lange Pause vor
dem Eintritt in die erste Berathung der Handels-
verträge keineswegs. Diese drei Verträge bilden
ja einen starken Baud mit einer großen Menge
von Einzelheiten, aber einen vorläufigen Ueber-
blick über das Material, wie er für die gänzlich
unverbindliche erste Lesung genügt, hätte bis zum
heutigen Tage, deni vom Reichstagspräsidenten in
Aussicht genommenen Termin, ein Jeder gewinnen
können. Da die Konservativen bereits einen An-
trag auf Verweisung der Vertrüge an eine Kom-
mission ankündigten, so brauchte man ja nur auf
deren Antrag einzugehen, um die Vermeidung
jeder konkreten Stellungnahme in der ersten Le-
sung vollkommen gerechtfertigt erscheinen zu lassen.
Die Verträge mit Rumänien und Serbien sollen
am 1. Januar in Kraft treten, müssen also im
Reichstage vor den Weihnachtsserien erledigt sein.
Kommt nun die Verzögerung durch eine Kom-
nnssionsberathung dazwischen, so ist angesichts der
Kürze der zur Verfügung stehende Zeit allerdings
so zu sagen kein Augenblick zu verlieren, und man
begreift, daß die Regierung auf den Beginn der
Berathung am Montag einen großen Werth
legte. Die Frage ist, wie aus parlamentarischen
Kreisen geschrieben wird, was nach der ersten Le-
sung der Handelsverträge zunächst an die Reihe
kommen soll, ob die Steuervorlagen oder der
Etat. Kommt der Etat zuerst zur Verhandlung,
dann hat es die Opposition in der Hand, den
Beginn der Finanzresormberathung ein gut Stück
hinauszuschieben, möglicherweise ihn vor Weih-
nachten überhaupt zu vereiteln. Eine Hinaus-
schiebung der erster Lesung der betreffenden Ent-
würfe bis nach Neujahr aber würde zweifellos
eine wesentliche Erschwerung ihres Zustande-
kommens bedeuten.
Deutsches Reich.
Berlin, 21. November.
— Die drei Präsidenten des Reichs-
tags sind heute Mittag 12 Uhr vom Kaiser im
Neuen Palais bei Potsdam empfangen worden.
Die Audienz hatte keinen politischen, sondern einen
rein geschäftsmäßigen Charakter. Der Kaiser, der
die Uniform des Leib-Garde-Husaren-Regiments
trug, empfing die Herren in huldvollster Weise.
Er befragte den Präsidenten von Levetzow über
seine Pläne bezüglich der Arbeiten des Reichstags
und wünschte denselben einen guten Erfolg. Darauf
berührte der Kaiser im Gespräch mit den einzelnen
Herren deren heimathliche und persönliche Ver-
hältnisse. Die Audienz währte etwa 15 Minuten.
Gleich darauf wurden die Herren von der Kaiserin
empfangen. Nach einer Unterhaltung von etwa 10
Minuten war der Empfang beendet. Um 1 Ubr
15 Minuten waren die Herren nach Berlin zurück-
gekehrt.
— Den Abendblättern zu Folge sprach der
Kaiser bei dem Empfang des Reichstags-
präsidiums zum Präsidenten v. Levetzow von
den Handelsverträgen sowie über die Unterhand-
lungen wegen des Handelsvertrags mit Rußland,
welcher nicht so schnell zu Stande zu bringen sei,
als vielfach gewünscht wird. Frhr. v. Buol,
den ersten Vizepräsidenten, fragte der Kaiser nach
dem Ausfall der Weinernte und bemerkte auf
dessen Erwiderung, daß sie hätte besser sein können,
man klage wohl nur, weil die Weinsteuer in Sicht
sei. Dr. Bürklin, den zweiten Vizepräsidenten,
beglückwünschte der Kaiser wegen des auf dem
Karlsruher Hoftheater zur Darstellung gebrachten
„Berlioz-Cyklus", wovon ihm viel Löbliches er-
zählt worden sei.
— Den Morgenblätter zufolge enthält der
vom Bundesrath angenommene Weinsteuer-
gesetzentwurf einige Abänderungen des ur-
sprünglichen Entwurfs. In der Definition des
Naturweins ist der Tresterwein gestrichen. Schaum-
weine sind alle in verschlossenen Flaschen in den
Verkehr gelangende Schaumgetränke ous Trauben-
wein, Obstwein, Beerenweinen oder weinhaltigen
oder ähnlichen Stoffen. Weine aus frischem Obst
und frischen Beeren sollen nur als Kunstwein
gelten, wenn sie nach dem Weinverkehrgesetz als
verfertigt anzusehen sind. Steuerpflichtig für
Kunstwein soll der Eingangszollpflichtige oder der
Hersteller sein. Das Gesetz soll am 1. Dezember
1894 in Kraft treten.
— In einer Korrespondenz für Cen-
trumsblätter lesen wir: „Zunächst muß fest-
stehen, welche neuen Steuern bewilligt werden und
welche Erträge aus ihnen zu erwarten sind, und
dann erst kann man dazu übergehen, zu überlegen,
in welcher Weise die so gewonnenen neuen Ein-
nahmen für eine Finanzreform nutzbar gemacht
werden können. Deshalb würde es richtig erscheinen,
wenn man die Berathung der Reichs-Steuerreform-
Vorlage mindestens bis nach Beendigung der zweiten
Lesung der neuen Steuervorlagen verschöbe. Wenn
jemals ein Ueberhasten vom Nebel war, so ist das
jetzt in der obne Frage höchst schwierigen finan-
ziellen Lage, in welcher das Reich Dank dem echt
„staatsmännischen" Vorgehen der Reichsregierung
und der Reichstags-Mehrheit von diesem Sommer
sich gegenwärtig befindet. Wenn die Miquel'schen
Offiziösen neuerdings in allen Tönen die schwierige
Finanzlage in Preußen auseinandersetzen, um bei
den Reichstags-Mitgliedern aus Preußen Stimmung
zu machen für die Ueberwcisung jener 40 Mill.
Mk. an die Einzelstaaten, so ist zu entgegnen, daß
zur Zeit die Finanzlage des Reiches noch viel
schlechter ist. Sie würde ganz unhaltbar werden,
wenn man nach Miquel'schen Rezepten nun dem
Reiche auch noch das Recht nehmen wollte, im
Nothfalle auf die Matrikularbeiträze der Bundes-
staaten zurückzugrcifen."
— Ueber den neugwähltsnAbg.Fürst
v. Fürstenberg streiten sich Konservative und Na-
tionalliberale. Derselbe hat, wie bereits mitge-
theilt, einen Platz unter den Nationalliberalen
belegt. In der „Post" wird dies jetzt dahin,
erklärt, daß der fraktionslose Abgeordnete nur
die Wahl gehabt habe zwischen einem Platz auf
der äußersten Rechten, auf dem man schlecht
sehen und hören könne, zwischen dem Platz des
Abg. Ahlwardt und dem Platz unter den Na-
tionalliberalcn. Irgend eine politische Bedeutung
könne diese Platzwahl nicht beigemessen werden.
— Die erfreulicher Weise wieder in der Ab-
nahme begriffene Erkrankung des Königs von
Sachsen, des einzigen noch überlebenden Heer-
führers aus dem letzten großen Kriege, hatte hier
überall, am Hofe, in den militärischen und poli-
tischen Kreisen, wie in weiten Schichten der Be-
völkerung die größte Theilnahme geweckt. Der
Kaiser hat sofort, nachdem er davon erfahren hatte,
direkte Erkundigungen eingezogen und hat sich
wiederholt über alle näheren Einzelheiten unterrichten
lassen. Die sächsischen Reichstagsabgeordneten
wurden von allen Seiten mit Anfragen bestürmt
und überall vernahm man die günstige Auskunft,
die sie über das Befinden ihres Landesherr» er-
theilen konnten, mit lebhaftester Genugthuung.
Karlsruhe, 21. Nov. Auf Grund von
vor wenigen Tagen beendeten Infor-
mationen stimmten die badischen Ver-
treter im Bundesrath gegen dieWein-
st e u e r.
Karlsruhe, 21. Nov. Der größte Theil der
Abgeordneten ist zur Kammer-Eröffnung bereits
heute hier eingetroffen, um die üblichen Visiten
in den Ministerhotels u. s. w. zu machen. Am
Abend treten die Kammermitglieder im Rondel
des Ständehauses zusammen, woselbst über ver-
schiedene Formalitäten, wie Bestellung des Alters-
präsidenten, Berathung gepflogen wird. Am
späteren Abend halten die Parteien Fraktions-
sitzungen.
Ausland.
Graz, 20. Nov. Die Leichenfeier des Grafen
Hartenau begann Nachmittags 2 Uhr in dem
Trauergemach, worin die Leiche aufgebahrt war.
Pfarrer Leidenfrost gedachte in der Trauerrede der
Eigenschaften des Herzens und Geistes des Ver-
storbenen. Nach der Einsegnung der Leiche bildete
sich der Trauerzug; hinter dem Sarg schritten der
vom Kaiser von Oesterreich entsandte Flügelad-
jutant Lonyay, Prinz Heinrich von Battenberg,, der
von der Königin von England entsandte Bot-
schafter Monson, Herzog Wilhelm von Württem-
berg, Prinz Franz Josef von Battenberg. Graf
von Eberbach, die bulgarischen Deputationen, der
Stadtthalter von Kuebeck, der kommandirende Ge-
neral mit der Generalität und das Offizierkorps
sowie zahlreiche andere Leidtragende. Unter mili-
tärischen Ehren begab der Trauerzug sich nach dem
Friedhof, woselbst die provisorische Beisetzung er-
folgte. An der Gruft hielt der bulgarische Mi-
nister Grekow eine Gedächtnisrede.
Rom, 21. Nov. Ungeachtet wiederholter Er-
mahnungen des Telegraphendirektors weigerten sich
die ausständigen Telegraphenbeamten, ihre Tätig-
keit wieder aufzunehmen, und leisteten der Auf-
forderung, die Dienststuben zu verlassen, erst nach
Erscheinen der bewaffneten Macht Folge. Die
Ausständigen sind durch neues Personal ersetzt,
und der Betriebsdienst ist wieder eingerichtet worden.
Die Depeschenausträger haben die Arbeit wieder
ausgenommen. Alle Telegraphenämter der anderen
Städte sind vollkommen ruhig.
Rom, 21. Nov. Die Zahl der ausständigen
Telegraphisten beträgt etwa 200. Das Ministerium
telegraphirte nach Neapel und Florenz um Ersatz.
Die Jagd nach einer Erbin.
Roman von Hermine Frankenstein.
60) (Fortsetzung.)
Sir Lionel wußte, daß in Folge der neuen
Beziehungen, welche zwischen ihm und Beatrix be-
standen, sie sich beeilen würde, ihm Nachricht von
sich zu geben, und hielt es sogar für sehr wahr-
scheinlich, daß sie nach Folliot Court gegangen sei.
In größter Eile kehrte er dahin zurück, fand
aber, daß sie nicht dort und daß auch keine Bot-
schaft von ihr angelangt war.
Eine entsetzliche Furcht, daß ihre Feinde sie
entdeckt und sich ihrer bemächtigt haben könnten,
erfaßten ihn und er hatte nicht die Ruhe auch
nur eine Stunde in Folliot bleiben zu können.
Er bat Lady Folliot, wenn irgend eine Botschaft
Von Beatrix an ihn käme, sie zu eröffnen und
den Inhalt derselben nach Durham zu telegra-
phieren, und reiste dann wieder ab.
Am nächsten Tage kam Beatrix Brief für ihn
an, welchen die jüngere Frau Trevor in London
aufgegeben hatte.
Lady Folliot öffnete den Brief in Gegenwart
des falschen Fräulein Bermyngham und las einen
Theil seines Inhaltes laut vor.
Die Baronin beeilte sich, ihrem Neffen Bea-
trix's neue Adresse zu telegraphieren; aber er hatte
einen anderen Weg eingcschlagen, weil er glaubte,
eine Spur von Beatrix gesunden zu haben, und
war nach London gegangen zu seinem ehemaligen
Erzieher, in der Idee, daß Beatrix dort vielleicht
Unterkommen gefunden habe.
Er verlor dadurch einige Tage, und als er
endlich nach Durham zurückgekchrt, fand er da-
selbst Lady Folliots Telegramm.
Er reiste sogleich in südöstlicher Richtung ab.
Inzwischen hatte Fräulein Bermyngham be-
reits sehr viel Unheil gestiftet. Sie hatte zwei
Briefe an Oberst Brand mit verstellbarer Hand-
schrift als „Ann Jones" gerichtet, ihm darin
Bcatrix's neue Adresse mitgetheilt und einen an
seine Adresse nach London, den anderen nach Dur-
ham abgeschickt.
Und einer dieser Briefe hatte seine Mission
rascher erfüllt, als Lady Folliot's Telegramm an
Sir Lionel.
Frau Brand war wohl noch in Durham, aber
allein und erhielt daher den Brief nicht, der an
ihn gerichtet war.
Oberst und Randal Brand waren nach London
zurückgegangen, um ihre Nachforschungen dort
fortzusetzen, und sie empfingen den dahin adres-
sierten Brief, welchen sie, wie wir gesehen haben,
zu benutzen verstanden. — —
Während der arme Jones sein schreckliches
Abenteuer erlebte und Beatrix's Feinde das Netz
immer dichter um sie Herzogen, ging in Trevor-
Farm Alles seinen ruhigen Gang weiter.
Es war neun Uhr geworden und noch keine
Spur von den zurückkehrenden Dienstboten
„Sonderbar, daß sie nicht kommen", bemerkte
Esther.
„Vielleicht ist Jones etwas geschehen," versetzte
Beatrix. „Sein Pferd ist vielleicht über etwas
erschrocken und scheu geworden."
„Sein Pferd ist so alt und ruhig, daß es
nicht einmal bei einem Erdbeben scheu würde",
sagte Esther. „Jones würde sich nicht unterstehen,
ein Pferd von dem Herrn zu nehmen und die
Anderen haben die besten Ackerpserde. Dem Pferde
ist nichts geschehen; aber so sind diese Dienst-
boten! Wahrscheinlich wollten sie die ganze Nacht
wegbleiben. Sie hätten es gar zu gern gesehen,
wenn er zu Hause geblieben wäre."
Um halb zehn Uhr war Esther zur Ueber-
zeugung gelangt, daß die Dienstboten für die
Nacht nicht nach Hause kommen würden.
„Ich will die Hunde herauslassen", sagte sie.
„Sie werden uns beschützen. Wir brauchen nicht
ängstlich zu sein. Aber schieben Sie hinter mir
den Riegel vor, Fräulein. Es ist gut, wenn man
vorsichtig ist."
Die Nacht war stockfinster. Esther zündete
eine Laterne an und ging hinaus und Beatrix
verriegelte die Thür hinter ihr. Kaum war eine
Minute vergangen, als man draußen fliehende
Schritte bürte und Esther heftig gegen die Thür
schlug, aufschreiend: „Lassen Sie mich ein! Schnell!
Lassen Sie mich ein!"
Beatrix öffnete die Thür, Esther stürzt hinein
und verriegelte sie hinter sich.
„Es ist etwas geschehen, Fräulein. Als ich
mich der Hundehütte näherte, glaubte ich zwei
Männer zu sehen. Ich rief sie an, und sie ant-
worteten mir nicht. Ich dachte, es wären die
zwei Knechte Owen und Geant, die einen Streich
spielen wollen. Ich wandte mich daher zu der
Hundehütte und steckte meine Laterne hinein.
Fräulein, die zwei Hunde waren todt!"
„Was?" rief Beatrix zurückweichend. „Todt?"
„Ja, und der Schaum vor ihrem Maule und
ihre krampfhaft verzogenen Glieder beweisen, daß
sie Gift bekommen haben."
Beatrix war von dieser Mittheilung ganz er-
schrocken und dachte sogleich an ihre Feinde.
„Was heißt das, Esther?" fragte sie.
„Das bedeutet etwas Böses," sagte Esther kurz.
„Wenn sie das Haus angreifen wollen, warum
haben sie die Hunde vergiftet, die sicher in ihren
Hütten waren?" fragte Beatrix.
„Darin bewiesen sie eben die Klugheit. Die
Hunde wären auf den ersten Schrei von uns her-
ausgestürzt und hätten sie angegriffen. Die Spitz-
buben fühlen sich sicherer, wenn die Hunde todt
sind. Sic müssen beabsichtigt haben, uns zu über-
rumpeln. Vielleicht haben sic vorausgesehen, daß
ich hinausgehen würde, um die Hunde frei zu
machen, und wollten inzwischen einschlüpfen."
Das hatten die Brand's auch beabsichtigt.
Aber Esther hatte den Tod der Hunde früher
entdeckt, als sie darauf vorbereitet waren.
Beatrix glaubte in diesem Augenblicke draußen
verstohlene Schritte zu hören. Ein Rascheln wurde
unter der Thür hörbar.
Und dann ertönte plötzlich zum namenlosen
Schreck der beiden Frauen ein donnerndes Klopfen
an der Thüre!
38. Kapitel.
Die Gefahr steigt.
Lady Folliot nahm an dem schrecklichen Falle
Kaspar Voe's ungemein regen Antheil.
Das entsprang wohl daraus, weil der Mann
in ihrem eigenen Parke todt aufgesunden wurde.