Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 5.1913
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https://doi.org/10.11588/diglit.26374#0305
DOI Heft:
8. Heft
DOI Artikel:Baum, Julius: Die Sammlung Dr. Oertel
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DIE SAMMLUNG DR- OERTEL
Abb. 2), der Seeoner Madonna des Mün-
chener NationaImu[eums eng verwandt.
Eine fixende weibliche Figur von un-
gewöhnlicher Großartigkeit, mit noch
fchlichten Röhrenfalten, zeigt in dem
machtvollen Bau des Körpers fchon die
Aderkmale der charakteriftifchen bayri-
fchen Plaftik vom Ende des 15. Jahr-
hunderts; fie Jtammt aus der Gegend von
Traunftein; die ergänzten Hände erlauben
keine fichere Deutung, ob eine Schmer-
zensmutter von einer Pieta, oder eine
Madonna dargeftellt [ein Joli. Unbe-
deutender find eine Anna Jelbdritt aus
Pfarrkirchen und eine ftehende Madonna
aus Braunau (Kat. Nr. 99), während zu
den trefflichften bayrifchen Arbeiten wie-
derum der hl. Sigismund aus Jakob
Kafchauers 1443 errichtetem Hochaltar im
Dome zu Ereifing (Kat. Nr. 98; Abb. in
Wolter, Jakob Kafchauer, Jahrbuch des
Vereins für chriftliche Kunft, München I,
1911, S. 9) gehört. Ganz hervorragende
Arbeiten finden [ich auch aus dem tiroli-
fchen Kunftgebiet: eine ftehende Ma-
donna (Kat. Nr. 24), eine raffige Krö-
nung Mariä aus Klofter Georgenberg
bei Schwaz (Kat. Nr. 18D; Abb. 3), die
thronende Figur eines Kaifers (Rudolf von
Habsburg?) aus Schlanders im Vintfch-
gau (Kat. Nr. 27; Abb. 4), ftiliftifch ver-
wandt mit der Krönung Mariä im Ger-
manifchen Mufeum, Nr. 231, endlich ein heiliger Mönch aus dem Puftertal (Kat. Nr. 20).
Um die Mitte des 15. Jahrhunderts feßt in Süddeutfchland die feit dem Beginne
der Gotik gewaltigfte Stilwandlung ein, der Übergang vom Idealismus zum Realismus,
vom monumentalen zum intimen, vom ftatuarifchen zum mehr malerifchen Stil. Die
Mienen erhalten eine neue, bisher ungekannte Belebtheit, die Gefte wird undeutlicher,
doch reicher; an die Stelle der groß gefchwungenen Faltenzüge treten in ihrer Einzel-
form forgfam beobachtete und wiedergegebene Knitterfalten.
Das Land am Oberrhein, das Gebiet, in dem zuerft in Deutfchland bereits am An-
fänge des 15. Jahrhunderts unter Konrad Wiß die neue Malerei ihren Einzug hält,
behält auch in der realijtifchen Entwicklung der Plaftik die Führung. Ein Werk von
fo beftrickendem Liebreiz der Mienen und Bewegungen wie die Madonna aus Dangols-
heim (Kat. Nr. 172; Abb. 5 [Tafel]), wäre in keiner andern deutfchen Schule der Zeit
um 1500 denkbar. Unter den fämtlichen Skulpturen der Sammlung Oertel darf fie
wohl als die köftlichfte bezeichnet werden. Qualitativ nahe fteht ihr das entzückende
Georgsrelief aus Rufach (Kat. Nr. 178; Abb. 6) mit dem zierlichen Ritter in der reichen,
Abb. 7. Maria von einer Geburt Chrifti.
Aus Kenzinyen (Kat. Nr. 170)
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Abb. 2), der Seeoner Madonna des Mün-
chener NationaImu[eums eng verwandt.
Eine fixende weibliche Figur von un-
gewöhnlicher Großartigkeit, mit noch
fchlichten Röhrenfalten, zeigt in dem
machtvollen Bau des Körpers fchon die
Aderkmale der charakteriftifchen bayri-
fchen Plaftik vom Ende des 15. Jahr-
hunderts; fie Jtammt aus der Gegend von
Traunftein; die ergänzten Hände erlauben
keine fichere Deutung, ob eine Schmer-
zensmutter von einer Pieta, oder eine
Madonna dargeftellt [ein Joli. Unbe-
deutender find eine Anna Jelbdritt aus
Pfarrkirchen und eine ftehende Madonna
aus Braunau (Kat. Nr. 99), während zu
den trefflichften bayrifchen Arbeiten wie-
derum der hl. Sigismund aus Jakob
Kafchauers 1443 errichtetem Hochaltar im
Dome zu Ereifing (Kat. Nr. 98; Abb. in
Wolter, Jakob Kafchauer, Jahrbuch des
Vereins für chriftliche Kunft, München I,
1911, S. 9) gehört. Ganz hervorragende
Arbeiten finden [ich auch aus dem tiroli-
fchen Kunftgebiet: eine ftehende Ma-
donna (Kat. Nr. 24), eine raffige Krö-
nung Mariä aus Klofter Georgenberg
bei Schwaz (Kat. Nr. 18D; Abb. 3), die
thronende Figur eines Kaifers (Rudolf von
Habsburg?) aus Schlanders im Vintfch-
gau (Kat. Nr. 27; Abb. 4), ftiliftifch ver-
wandt mit der Krönung Mariä im Ger-
manifchen Mufeum, Nr. 231, endlich ein heiliger Mönch aus dem Puftertal (Kat. Nr. 20).
Um die Mitte des 15. Jahrhunderts feßt in Süddeutfchland die feit dem Beginne
der Gotik gewaltigfte Stilwandlung ein, der Übergang vom Idealismus zum Realismus,
vom monumentalen zum intimen, vom ftatuarifchen zum mehr malerifchen Stil. Die
Mienen erhalten eine neue, bisher ungekannte Belebtheit, die Gefte wird undeutlicher,
doch reicher; an die Stelle der groß gefchwungenen Faltenzüge treten in ihrer Einzel-
form forgfam beobachtete und wiedergegebene Knitterfalten.
Das Land am Oberrhein, das Gebiet, in dem zuerft in Deutfchland bereits am An-
fänge des 15. Jahrhunderts unter Konrad Wiß die neue Malerei ihren Einzug hält,
behält auch in der realijtifchen Entwicklung der Plaftik die Führung. Ein Werk von
fo beftrickendem Liebreiz der Mienen und Bewegungen wie die Madonna aus Dangols-
heim (Kat. Nr. 172; Abb. 5 [Tafel]), wäre in keiner andern deutfchen Schule der Zeit
um 1500 denkbar. Unter den fämtlichen Skulpturen der Sammlung Oertel darf fie
wohl als die köftlichfte bezeichnet werden. Qualitativ nahe fteht ihr das entzückende
Georgsrelief aus Rufach (Kat. Nr. 178; Abb. 6) mit dem zierlichen Ritter in der reichen,
Abb. 7. Maria von einer Geburt Chrifti.
Aus Kenzinyen (Kat. Nr. 170)
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