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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 6.1914

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Heft 20/21
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LITERATUR

richtung von neuen Regierungsgebäuden, Park-
anlagen, Denkmälern ufw.). Der Ausfchuß möchte
auch auf die Öffentlichkeit im rechten Sinne ein-
wirken und deren Intereffe an künftlerifchen
Dingen ftärken. Das Burlington Magazine, das
fich zu der ganzen Sache in feinem Äuguftheft
äußert, erwartet von der Errichtung eines Kunft-
minifteriums kein Heil. Kunft brauche volle
Freiheit, nicht Bevormundung und ftaatliche Aus-
zeichnung einer „offiziellen“ Klaffe von Künft-
lern. Statt den Staat ßch hier einmifchen zu
laffen, folle man lieber alle bisher fchon ftatt-
findende Bevorzugung „akademifcher“ Kunft be-
enden, was u. a. zur Folge hätte, daß der Royal
Academy der mietfreie Genuß des Burlington
Houfe für ihre Aufteilungen ufw. entzogen
werden würde. F.

LITERÄTUR

DEUTSCHE SONDERGOTIK. Eine Unter-
fuchung über das Wefen der deutfchen Bau-
kunft im fpäten Mittelalter von Kurt Gerften-
berg. Delphin-Verlag, München.

Es find nicht nur zahlreiche feinfühlige Beobach-
tungen und anregende Gefichtspunkte, die diefem
Buche feinen außergewöhnlichen Wert verleihen,
fondern die ganze Methode, die ganze Art, das
Problem anzufaffen und zu löfen, macht es zu
einer der wertvollften Erfcheinungen der lebten
Jahre. Man mag ruhig zugeben, daß diefe
Unterfuchung ohne Wölfflins Buch von Renaif-
fance und Barock niemals gefchrieben worden
wäre; an dem Werte des Gerftenbergfchen
Buches ändert diefe Feftftellung nichts, weil hier
nicht tote Nachahmung, fondern lebendigftes
Verftändnis am Werke war.

Das Ziel der Unterfuchung war, in der deut-
fchen Baukunft des fpäten Mittelalters diejenigen
Elemente aufzuzeigen, die ihr die Selbftändigkeit
gegenüber der hohen Gotik verbürgten, und nach-
zufehen, wie weit fich eine Änderung der Bau-
gepnnung und typifch raffenhafte Eigenarten
feftftellen ließen. Derartige Erkenntniffe find
nicht aus einer Analyfe der Einzelformen nach
Herkunft, Ablöfung und Beeinfluffung zu ge-
winnen, fondern nur dadurch, daß man die Stil-
formen und ihre Wandlungen nach ihren pfycho-
logifchen Inhalten interpretiert, daß man in dem
veränderten Raumbild das neue Temperament
und die neue Stimmung fühlen läßt. Die Ver-
änderung der Einzel- und Gefamtformen be-
deutet eine veränderte optifche Dispofition der
Zeit und fällt zufammen mit den allgemeinen
Veränderungen des geiftigen Lebens.

Von diefem Gefichtspunkt betrachtet, ftellt ßch
die Epoche, die Gerftenberg als Sondergotik be-

zeichnet, und die früher Spätgotik hieß, nicht
mehr als eine fpäte, weniger kräftige oder kon-
fequente Form der Gotik dar, fondern als ein
neuer Stil, der feine befonderen Formen aus
einer neuen feelifchen Dispoßtion der Menfchen
erwadifen läßt. Der Hochdrang der Gotik, ihr
einfeitig vertikaler Bewegungszug ift deshalb
fchwächer geworden, weil der neue Stil eine
ganz neue Raumgeftaltung verlangt. Die Be-
wegung verlangfamt fich, und wo die Gotik die
ungehemmte Vertikalbewegung allein gelten
ließ, bringt die Sondergotik die Vervielfachung
der Bewegung, die nun auch ihr beftimmtes Ziel
verliert und ßch nach den Seiten hin gleichmäßig
ausbreitet. An den großen wie den einzelnen
Formen prägt ßch das gleichmäßig aus, und wie
die neue Geftaltung der Gewölbe, die die Kreuz-
rippen ausfdhaltet und Nefe- und Sternformen
bevorzugt, davon zeugt, fo entfpricht dem die
neue Bedeutung der Horizontale und eine Wie-
dergeburt der Fläche, die die Gotik in einzelne
Vertikalglieder aufgelöft hatte. Vor allem aber
bringt die neue, ßutende Bewegung eine neue,
bildmäßige Raumgeftaltung mit fich, die durch
Verbreiterung und gleiche Höhe der Schiffe der
Bewegung die in der Gotik herrfchende einzige
Richtung nimmt, und fo an die Stelle des Neben-
einanders der Gotik ein neues Ineinander der
Wirkung fefet. Für diefes Ineinander der Teile
ßndet Gerftenberg den guten Ausdruck Ver-
fchleifung. So ftellt der neue Stil dem Funk-
tionellen der Gotik das Malerifche, Flächenhafte
entgegen, wie er auch Licht und Schatten zum
erften Male feinen Raumkompofitionen dienftbar
macht. In diefen Eigenfchaften des Stiles, der
langfamen Bewegung, der Irrationalität des
Formcharakters und endlich darin, daß die Grund-
lage des neuen Stiles die Stimmung ift, findet
Gerftenberg die Beweife für feinen germanifchen
Charakter. Im zweiten Teil des Buches wird
dann die Entwicklung der Raumgeftaltung, die
auf Steigerung und Vereinheitlichung geht, ge-
nauer unterfucht.

Alle diefe Unterfuchungen ßnd gleich weit von
formaliftifchem Kleinigkeitskram wie von dilet-
tantifchem Äfthetifieren entfernt. Jeder Safe ift
feft auf eine genaue Kenntnis des Materials,
der Bauwerke felbft wie der Urkunden und der
Literatur gegründet, und auch die gelegentlichen
Ausblicke auf die Gebiete der Malerei und der
Skulptur, wie auf die der anderen Stilepochen,
verlangen um fo größere Achtung, als fie neben
genauer Detailkenntnis gleichfalls Gruppierungen
und Wertungen nach neuen Gefichtspunkten
zeigen. Befonders wertvoll ift das Kapitel über
die germanifche und romanifche Raumanfchau-
ung, der Vergleich des fondergotifchen Raumes

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