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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 1
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Unsere Künste, [1]: zum Überblick
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0009

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Form das Lseil erkannte und die Farbe mißachtete.
k;eute hat sich das verhältnis umgekehrt. Lornelius
wie die ganze Reihe der Rartonzeichner sind von der
Gegenwart weit getrennt: einseitig wie man sie
srüher überschätzte, so unterschätzt man sie heute viel-
leicht, wenn man über den Mängeln ihrer j)insel- und
Rreidesührung die Durchgeistigung ihrer Stoffe ver-
gißt, die wenigstens den Ursprünglichsten unter ihnen
gelang und eben auch zum „wie" der Runst gehört.
^aris und Belgien mit ihren Roloristen gaben den
Anstoß zur wiederkehr der Farbe in die Bilderwelt,
wie sie dann in Münchens Dilotyschule ausleuchtete.
Aber auch diese Roloristik stirbt dahin: der „goldige
Ton" ist nicht mehr der gepriesenste Borzug unserer
Gemälde. Ronventionell, wie die vorausgegangene,
war im Grunde auch diese Nichtung gewesen. Nun
ist die s)alette j)ilotys als „Sance" verschrieen und auch
Wakarts so bewunderter Rolorismus wird skeptisch
betrachtet. Die ^reude an Rlarbeit der Farbe, wie
die Natur denr Nnvoreingenonnnenen sie zeigt, steht
im Nnttelpunkt der Bewegung, die immer weitere
Rreise mnzieht: der aus s?aris entstannnenden „Freien -
Lust-Walerei". Ls ist nicht zn leugnen, daß die
sunge Genosseirschast noch ost die Fehler ihrer Tugenden
für ihre Tugenden selber hält, nicht zu leugnen, daß
sie durch Uebertreibung einer gesunden Neaktion
gegen den Wanierismus der ^-chönheit häufig genug
dem Wanierismus der ^äßlicbkeit verfällt. Und es
ist nicht zu leugnen, daß andererseits die sunge wlaler-
schule in der Frende, die Gegenstände wiedergeben zu
können, wie sie sind, zeitweise dem s)rrtum versällt,
damit sei es gethan. Dem, der sehen will, erschließen
sich trotzdem schon nach allen Seiten Ausblicke in das
Zukunstsland jener Runst, die nach vollständiger
Überwindung der technischen Schwierigkeiten häufiger
und häufiger auch ein seelisch Bedeutendes erzeugen
wird. Nicht als eine walerei von Gedanken, sondern
als eine solche von Anschauungen, nicht als Runst
des Oerstandes, sondern als Runst der j)hantasie.

Lin wunderbar schnelles wachsen, Grünen und
Blühen war in den beiden letzten Iahrhunderten der
Wusik beschieden. Blicken wir aus die Zeit vor
Bach und bsäudel zmnck, — eine Zeit, deren musi-
kalische Schöpsungen uns innerlich vollständig sremd
geworden — und von ihr auf die Gegenwart, so
drängt fich uns die Überzeugung aus, daß wohl neben
der staunenerregenden Lntfaltung der griechischen
sAastik des Altertums und der Walerei der Nenais-
sance kaum ein viertes Beispiel gleich schneller Lnt-
saltung einer bisher nur knospenden Runst zu dem
dritten unserer Wusik sich bietet. Deshalb brauchen
wir nicht zu behaupten, daß es in ihr von Rünstler
zu Rünstler stets vorwärts ging, daß Seiten- und
vielleicht auch Nückschritte sehlten, wie sa die Blüten-
geschichte auch jener Rünste sie auszeigt. Die Stim-
mungen, Leidenschasten, die Tmpfindungen überhaupt,
geläutert, d. h. von 'den Beimischungen des Zusalls
losgelöst, vor uns walten zu lassen, uns solcher weise
von den Banden der wirklichkeit zum verdichteten
Genusse unseres Selbst in einer welt der wahr-
heit zu befreien: das ist der Tonkunst unseres Zahr-
hunderts doch wohl noch mehr gelungen, als der seder
vorangehenden Lpoche.

Unzweiselhaft wirkte dazu die gewaltige Lrwei-

terung der musikalischen Ausdrucksmittel mit, die der
Znstrumentenbau, die Znstrumentalvirtuosität und mit
ihnen im Zusammenhang die Mrchestrierung zeitigten.
Fast aber in noch höherem Waße der vielleicht
wichtigste Teil der Nkusik: die Gesangskunst. Zndem
das Streben nach vertiefung, nach Durchgeistigung,
Anlaß ward zum an und sür sich bedauerlichen Rück-
gang der Gesangsvirtuosität, ward doch unser
Gesang vor dem vollständigen Aufgehen in dieser
letzteren gerettet. Nun ist es die Vokalmusik, die heut-
zutag die bedeutendsten Trsolge errungen hat, und
das nicht nur im „mufikalischen Drama", sondern auch
im lyrischen, sa im epischen Gesange. Daß hinter ihr
die reine Znstrumentalmusik zurücktritt, mag in der
Thatsache begründet sein, daß unsere ganze Tonkunst
mehr denn srüher nach Lharakteristik drängt, und daß
diese Tharakteristik des stützenden und erklärenden
wortes ost nicht entraten zu können meint. Line
chtütze mehr sür diese Ansicht könnte vielleicht aus der
Betrachtung unserer „sDrogramm-N'lusik" erwachsen, die
sreilich weder so neuartig oder so unselbständig sein
dürfte, wie ihre Gegner behaupten, noch so dem
eigentlichen wesen der Znstrumentalmusik entsprechend,
daß sie als vollkommenes Nkuster der ganzen Gattung
betrachtet werden könnte.

Ohne Vergleich tieser steht die nächste Runst der
successiven Anschauung, die Nbimik, sa, es kann im
eigentlichen Sinne kaum von einer Lntwickelung der
letzteren gesprochen werden. Fehlt ihr doch die viel-
leicht wichtigste Bedingnng einer solchen mit dein
Fixierungsmittel sür ihre Schöpsungen, das die beiden
anderen zeitlichen Rünste in Lettern- und Notenschrist
befitzen. während in diesen das eigentliche Runstschaffen
das seines Zusammenhangs mit dem Dorher und Später
unbewußte Nolksschaffen weit überholt hat, begegnen
wir in der Nnmik dem Nmgekehrten: die nationalen
Dolkstänze nähern sich weit mehr dem wesen der Runst,
als die vollständig unkünstlerischen Tänze des „Salons".
Nnt verschwindenden Ausnahmen künstlerisch ein Nichts
ist auch unser Ballet. Anderen Nölkern scheint der
Sinn sür mimische Schönheit und Lharakteristik weniger
abhanden gekommen zu sein, als dem unseren, das
einer dem heutigen Deutschland so neuen Runst-
gattung, wie sie die englischen Aufführungen des
„ wlikado" uns kennen lehrten, ersreut und aner-
kennend, aber — und gerade in seinen Rritikern am
meisten — vollständig haltungslos gegenüber stand.
Nur bei der mimischen Fsilsskunst der Dramatik, bei
der Runst der Schauspieler liegt die Sache anders.
Zwei ckllrebungen gehen hier immer noch nebenein-
ander, deren eine die Schönheit, deren andere die Lha-
rakteristik in ihren Leistungen hervorzuheben sucht,
zwei Nichtungen, die nicht ganz treffend als die „idea-
listische" und „realistische" bezeichnet werden. wie in
allen übrigen Rünsten erkrästigt sich mehr und mehr
die letztere.

Lin Ding der Unmöglichkeit ist es, auch nur die
flüchtigste Nmrißskizze vom verschwommenen Zustand
unserer j? oesie mit wenigen Linien zu zeichnen. Dermögen
wir in vergangenen Zeitabschnitten unseres Schrifttums
als „Nomantik", als „sunges Deutschland", als „Rlassi-
zität" sehr wohl bestimmte Strömungen zu unter-
scheiden, so gleicht unsere heutige Dichtung der Stelle
eines Meeres, an welcher verschiedene Flutungen bald

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