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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 4
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Kirchbach, Wolfgang: Vers und Prosa?
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0046

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„tebensbuch"* klargestellt haben. Für unsere gegen-
wärtige Zeitepoche liegt bei weitem weniger die
Gesahr vor, daß ein gedankenloser, deklamatorischer
versdilettantismus uns schädlich werde, als daß unsere
besseren Geister, indem man die Natur und das eigent-
liche wesen der verskunst vergißt, erlahmen im
Streben nach dem Höchsten, nach einer wirklichen
geistigen Bewältigung des Zeitgehalts. Solange man
sreilich noch mit der Technik des Dramas zu ringen
hat, solange das Stoffliche nicht überwunden ist und
wo das Theaterblut nicht dem Autor in allen Gliedern
sitzt, wird man allerdings besser thun, sich in jDrosa
mit dem Theater abzufinden, und wenn unter vielen
Schauspielern in der That eine Strömung gegen den
vers herrscht, so gilt das in wirklichkeit nicht dem
verse an sich, sondern nur dem salsch behandelten,
dem dilettantischen, charakterlosen Verse, den eben zu
allen Zeiten der ^tümper macht, der nicht im lebendigen
Verkehr mit der Lühne steht. Bor den Bersen unseres
Schiller haben aber unsere chchauspieler den größten
Nespekt, wie die Lranzosen vor denen Molieres, die
Gngländer vor denen Shakespeares. Awn wird in
der gesamten Theatergeschichte bemerken, daß da, wo
das Drama aus praktischem Boden wächst, wo der
Schauspieler womöglich selbst zum Theaterdichter wird,
daß da auch immer der vers herrscht. Die klassischen
Spanier, die von dramatischem Leben strotzen, können
eines Dramas in Dersen nicht entraten, wie im
Griechentum der Vers die absolute Bedingung der
s)oesie war und die prosa unsrer Romane nun und
nimmer als jDoesie gegolten hätte.

Selbst die heutigen Franzosen haben noch ein ge-
wisses instinktioes Gefühl, daß mit ihrer realistischen
s)rosa nicht das letzte Ziel realistischer s)rosa erreicht
sei. Daudet nennt seine Romane ,ZIoenr3 pariLiennes"!
Sittenschilderungen! Diese weise Bescheidenheit läßt
den seinen Sinn um so mehr sich an der meisterhasten
j)rosa ersreuen.

Zm Drama liegen die Dinge nun besonders eigen-
tümlich, um gerade die jDraktiker immer von Neuem
auf den Vers zu sühren. Schiller schuf seine prosaischen
Dramen sa in einer Zeit, da der Nuf nach „Natur"
und „s)rosa" gleich lebendig war wie heutzutage.
Diderot hatte Bahnen gebrochen, auf denen ein
„Aabale und Liebe" losbrechen konnte. iö-chiller sah
auf die gewaltigsten Triumphe als Bühnenpraktiker
zurüek und wer einmal ein solcher j)raktiker gewesen
ist, der wird sicher nicht durch etwas Unpraktisches
gerade diesen fur die Bühne wichtigsten Ru, der ihm
seme Zukunft bei den Schauspielern sicherte, in Frage
stellen. warum griff er doch zum vers? Doch
wohl nur aus praktischen Gründen. Ls ist falsch,
anzunehmen, seine Nhetorik habe ihn dazu geführt,
noch falscher zu glauben, der Zambus sei an seinen
rhetorischen Trgüssen oder an einer Thekla-Utaxepisode
Schuld. Letztere würde auch in einem prosaischen
„Wallenstein" mitgegangen sein, denn schon in den
„Näubern" und in „Rabale und Liebe" macht sich,
unvermittelt neben einem natürlichen Nealismus, der
rhetorische Zug Schillers bemerkbar, jene „bsypersen-

* „Lin kebensbuch. Gesamelte kleinere ^chriften, Reise-
qedanken und Zeitideen" von lVolfg. Uirchbach. (Gtto
Lseinrichs Verl.) Desgleichen vergl. Vorrede zu „kVaiblinger"
(Lin Trauersxiel unserer Ieit) von W. Kirchbach.

timentalität", wie der verfasser der Diagnosen es
nennt. „Don Rarlos" speziell ist wohl das am
wenigsten rhetorische unter chchillers Dramen; es
bewegt sich fast durchweg in einem natürlichen Tone,
denn die Rolle des Rlarquis s)osa versteht nur ein
Stümper als Rhetorik. was dieser Rlarquis sagt,
sind keine s)hrasen, sie können es höchstens in einem
Zeitalter des Byzantinismus erscheinen, dem wir uns
leider immer mehr nähern, wie wir, gleich den Alexan-
drinern, uns in s)rosa verlieren.

Denn Verse machen ist das s)rivileg dss freien
Mannes, s)rosa ist die Sprache der Rnechte. Dieses
Aper^u zu erklären, will ich nicht schuldig bleiben, so-
fern ich vom Drama rede — und der Leser auch
einen chpaß versteht.

Die dramatische Runst ist nicht im modernen 5inne
eine einseitig realistische Runst, welche ein „Abbild"
des Lebens ohne Rommentar gäbe. Äe ist im emi-
nenten 5inne Lebensaufsassung, Lebensdeutung, Lebens-
ansicht höherer Art, an Handlungen der wirklichkeit
und Lharakteren entwickelt. Von den Zeiten des
Aristophanes, da er in seinen „Fröschen" den Guripides
durchhechelte wegen der banalen Lebensauffassung, die
aus seinen Aompositionen heraussieht, bis zum heutigsn
Tage ist das geheimste Znteresse des Zuschauers auf
die Art der Lebensphilosophie gerichtet, die stillschwei-
gend aus der ethischen Verslechtung der dramatischen
Treignisse spricht. Denn was sich an eine versammelte
Rienge von Tausenden wendet, das muß an sich auf
der Höhe des Lebens stehen, um dauernd zu wirken.
wir bemessen den wert einer dramatischen Dichtung
durchaus nach der ^öhe der Lebensauffassung, welche
sich darin ausspricht. wo ein banaler Sinn in der
Lösung tragischer oder heiterer Ronflikte zu Tage tritt,
da erlahmt das Znteresse sehr bald und die geschick-
teste Mache vermag auch nur für den Augenblick
darüber hinwegzutäuschen, vielmehr, wenn sie geschickt
ist, ist auch diese „Rlache" bereits der Ausfluß eines
geistreichen Rechnens mit den sittlichen Negungen des
Zuschauers, also wiederum Ltwas, das sich von der
Nealistik des wirklichen Lebens entfernt. Rotzebue,
ein für seine Zeit ausgezeichneter Bühnenrechner, ist
vergessen und er ging nur zu Grunde an seiner in
der That gemeinen Lebensauffassung, die oft erschreckend
in seinen sentimentalen Rührszenen zu Tage tritt. So
muß der Dramatiker zunächst über eine edlere, durch-
gearbeitete Lebens- und Daseinsansicht gebieten, ehe
er hoffen kann, dauernd zu wirken. Reiner hat wie
Shakespeare gezeigt, was da heißt: im großen Stile
leben und zu Grunde gehn, und Schillers unverwüst-
liche wirkungskraft liegt nur in der edlen, freien und
freiheitlichen tebensanschauung, in der Tiefe der
Schicksalsdeutung, welche sich aus der Romposition
der Lsandlung ergiebt und instinktiv jedes edlere Ge-
müt erfaßt.

Ze mehr nun der Bühnenpraktiker sein eigenes
Lthos läutert, desto mehr wird er auch nach dem
äußeren Ausdruck dafür suchen. Und diefer äußere
Ausdruck ist der vers. Nicht den unregelmäßigen
Rhythmus der wirklichkeit, sondern den geregelten
der Runst legt er als bindende Grundlage unter.
Zst ja auch sein werk nicht die wirklichkeit selbst,
sondern ein Bild der wirklichkeit: ein „Spiegel" wie
es Lhakespeare nennt. Darin ist nicht etwa das

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