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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 9
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Horwicz, Adolf: Was ist Kunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0113

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Aber dieses „Ideal", das der Aünstler der Natnr
entnimmt, und das dein Genius so selbstverständlich
und klar erscheint, bleibt den Augen des Laien und
auch selbst denen des Talents mit sieben Siegeln ver-
schlossen. Das Buch der welt ist schwer zu hand-
haben, noch schwerer freilich zu leseu und zu verstehen.
Denn die welt ist eben ein billionenfach verschlungenes
Netz durcheinander gefitzter, vielmehr durcheinander
sausender und schwirrender Aausalsäden. Kein wunder,
daß Alancher nicht mehr davon versteht und sie für
nichts Anderes ansieht, als die Made den Räse, in
dem sie wohnt, oder das Müllertier die Tretmühle, in
der es sich plagt. was und wie viel sieht denn der
Mensch gewöhnlichen Schlages an der Natur? An
der äußeren — an Berg, wald, Feld, Lluß, Meer

— noch am Meisten. Das Neisen ist ja jetzt Mode

geworden. Aber abgesehen davon, daß Nlanche —
viele — bloß der Alode wegen reisen, daß sie in die
Natur alle ihre gewöhnlichen Tages-Sorgen und
Interessen mitnehmen und sich wohl gar beisallen
lassen, den Gebirgswald aus seiuen Lsolzwert, den Gieß-
bach aus seine IDasserkrast abzuschätzen u. s. w.: ist
nicht das schon ein bedenkliches Zeichen, daß die
Meiften den Naturgenuß erst in landschastlich hervor-
ragenden j)unkten der Trde suchen müssen, während

er sich, wo man ins Freie gehen kann, wo Lelder

und kViesen, wo Mald und Flur und Bach vorhanden
sind, von selbst darbietet? Aber vollends die geistige,
seelische, sittliche Natur — von wie Vielen oder wie
wenigen wird sie genossen? Wie viele besitzen auch
nur die Vorbedingung dasür, die Fähigkeit, den Gang
der Natur und der Ntenschenschicksale in beschaulicher
Betrachtung zu überschlagen? ll)ie Viele vermögen
von ihrem eigenen lieben Ich abzusehen oder dem
abschleifenden Tinfluß von Zeit und Naum, die sich
zwischen die einzelnen Akte einer bsandlung legen, zu
widerstehen? So geschieht es, daß wir die tragischen,
komischen, die lyrischen u. s. w. Stosfe um uns her
nicht wahrnehmen. kVir gehen an denselben
einsach vorbei, gleichgiltig unseren egoistischen Znteressen
folgend; wir sehen einfach eine liederliche Dirne, wo
ein tieser und reiner blickendes Auge vielleicht An-
klänge von Gretchens ^chicksal fände; wir finden
eine gewöhnliche Heiratsgeschichte, worin der bunte
Nock des Bräutigams und das Vermögen der Braut
die bekannte Nolle spielen, wo ein Dichter den Stosf
etwa zu einer Niinna von Barnhelm fände u. s. w.

Diesen großen Nkangel, diesen „geistigen Defekt"
auszugleichen, ist die Aufgabe der Runst: sie soll
uns schauen lassen, was wir, verhindert durch
die Schwäche und Tnge unseres geistigen kfo-
rizonts, sowie durch die Tntlegenheit und
räumliche oder zeitliche Zerstreutheit des
^toffes, nicht zu sehen vermögen. Äe soll uns
wie mit einem Zauberschlage in eine fremde neue
kVelt versetzen, in der wir aber schließlich doch unsere
eigene uns von Rindesbeinen an bekannte erkennen.

kvir müssen das Verhältnis der Runstwelt zur
wirklichen kVelt noch ein wenig näher betrachten.
Die !<unst stellt nämlich Alles durch sinnlich ange-
nehme und ästhetisch-wohlgefällige Niittel dar: durch
reine leuchtende Farben, durch rein klingende Töne,
glatte wohlgeformte Flächen, durch schöne edle ^prache,
gehoben noch durch den wohllautenden rhythmischen

vers, durch schöne verhältnisse des Ganzen und seiner !
Teile, durch Gleich- und Lbenmaß aller Glieder. ^
Auch innerlich, geistig, spricht fie uns an. Sie lang-
weilt und ermüdet uns nie, im Gegenteil: sie erquickt
uud erfrischt uns, da jeder Teil durch das Ganze
bedingt, jede Linzelheit durch die Zdee beherrscht und
notwendig gemacht ist, durch die Zdee, die das Gute,
das wahrhaft Geistige, Göttliche ist, und die deshalb
bei allem Menschlichen als poetische Gerechtigkeit
herausspringt.

Dieses Festgewand, das die Kunst äußerlich und
innerlich an sich trägt, es überträgt sich unwillkürlich
auf uns, als die Beschauer uud Zuhörer. wir treten
in einer gewissen Feiertagsstimmung vor die Runst,
vor die echte Runst hin. wie einstmals die Aunst
ausschließlich F>ache der Gottesverehrung, ein Beiwerk
des Aultus war, wie die staunende Menge, wie zum
Tempelbesuch, zum seltenen Runstgenuß sich drängte,
zum tragischen Bocks-Gpfer, wie zu den ausgelassenen
Späßen des Dionysus-Lestes: so war noch zu unserer
väter Zeiten die Runst ein seltener, mit einer Art
von Fest- und kveihestimmung erwarteter und von
ihr begleiteter Genuß — gerade das Gegenteil von
heute, wo in einer größeren Stadt Tag sür Tag
mehrere Theater ihre nicht mehr festlichen Hallen
öffnen, Dutzende von Ronzerten sich täglich anbieten,
Runstausstellungen, Abuseen ihre Liebhaber anlocken,
die tzlyrik in Tausenden von Bänden und der Roman
in zahllosen Leihbibliotheken und einer Unmasse von
Zeitschriften und Zeitungen verabsolgt wird. Doch
das Gute ist selten, und so tritt ihm der ernster Ge-
sinnte, wo es ihm geboten wird, trotzdem noch immer
init einer gewissen andächtigen Feststimmung gegenüber,
wie sie der wahren Runst geziemt.

Rttt diesem äußeren und inneren Festgewande der
Runst steht indessen das tägliche Leben, unsere Alltags-
welt, in schroffem Gegensatze. Denn im Strom des
^ebens, im Geräusch der Alltäglichkeit geht es, wie
wir wissen, nichts weniger als festlich zu. Da ver-
blassen die Farben, die Töne werden hart und schrill,
und von dem Zdeellen läßt sich meist bitterwenig
merken. Gerade aber darin liegt der ästhetische
Lffekt der Runst, daß wir in dieser bunten, farben-
geschmückten, ideellen Runstwelt bei näherem Hinsehen
unsere eigene, wirkliche bvelt erkennen. Rommisbrod
muß Zeder essen, Zeder das seinige. Rönnte nur
Zeder sein Stück Brod mit den Augen der Nachbarn
betrachten, es käme ihm herrlich und kostbar vor.
Dieses fremde Auge wird uns von der Runst geliehen,
und jr äfter wir davon Gebrauch machen, je mehr
wir unser Auge an die künstlerische jDerspektive ge-
wöhnen, desto leichter wird uns der Uebergang von
einer Betrachtungsweise zur andern, desto mehr lernen
wir schließlich auch die lvirklichkeit aus ideellen Ge-
sichtspunkten zu betrachten, und desto mehr werden
wir gewahr, daß das alltägliche Leben solcher sonnen-
beschienenen Lsöhepunkte, dergleichen die Runst darstellt,
keineswegs entbehrt. Und das ist es, was wir den
ethischen Lffekt der Runst nennen möchten.

Damit kommen wir schließlich auf das traditionelle
Rwment der Runst zu sprechen. Denn immer ist das
Lthische ein Geschichtliches. Die Runst ist ein historischer
jDrozeß, eine geschichtliche Ueberlieferung. wie die
Runst, aus dem Rultus geboren, erst allmählich die ^

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