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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 19
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Riffert, Julius: Polizeiliche Zensur an Bühnenwerken
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0272

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den Stempel der Unsittlichkeit auf. !Nan wird es
freilich nicht verhindern können, daß entgegen der Ab-
sicht, das Gemeine anzuziehen, solch' ein werk auch
einmal anreizend wirkt; aber dann müßte die
lizei es auch verbieten, auf die Straße zu gehen oder
einen Lisenbahnzug zu besteigen, denn auch da kann
ein fallender Dachziegel oder ein Zusammenstoß ver-
hängnisvoll werden. Mr einen Unreinen kann auch
das Reinste Anlaß des Falls sein. Deshalb erregt
das polizeiliche Derbot Zolascher Nomane und Theater-
stücke, Zbsenscher Dramen unser Ropfschütteln und
läßt es als eine ungerechtfertigte Maßregel erscheinen.
Man mag Zola's Naturalismus vorwerfen, was man
will, unsittlich ist er nicht, im Gegenteil, was die
werke des Franzosen künstlerisch anfechtbar inacht, ist
gerade ihr stark moralisierender Zug, der durchaus
bessern will, allerdings so, wie jener pädagoge, der
seine Lchüler dadurch vor der bsäßlichkeit der Trunken-
heit zu warnen unternahm, daß er selbst berauscht in
die Rlasse trat. Und was Zbsens Schauspiele anbelangt,
so kann von gemeinhin Unmoralischem nicht die
Nede sein; hier möchte man bei einem verbot eher
an die Nücksicht denken, die den Zuschauer vor denr
Anblick des Unangenehmen und jDeinlichen bewahren
will. Auch das ist nicht zu billigen; im Gegenteil,
man gebe die Aufführung Zbsenscher ötücke nicht nur
frei, sondern man führe die wenge geradezu hin zu
ihnen, damit sie die Urankheit der Zeit kennen lernen
und gegen den philisterhaften j)essimismus, die sittlich
öde weltanschauung Derwahrung einlegen. Alan sei
doch nicht gar zu sehr auf das wohlbehagen des
guten ^ublikums bedacht! Ts ist behauptet worden,
eine Aufführung eines Theaterstücks von Zola und
eines Dramas von Zbsen habe bei einigen Zuschauern
die Folge gehabt, daß das Nachtessen ihnen vergällt
und die Nuhe des Schlafes geraubt worden sei. wir
gestehen, daß wir diese wirkung genannter werke
noch nicht für die schlechteste und am wenigsten wün-
schenswerte halten können. Der Zuschauer unserer
Tage ist furchtbar verweichlicht und beurteilt einen
Theaterabend nur noch danach, ob er seinen Zweck,
die Verdauung zu befördern, gut oder schlecht erfüllt
habe; ein Gewissen bringt er gar nicht mehr in das
Theater mit. Das Gewissen wieder zu wecken aber
halten wir für die vornehmste Aufgabe der Theater-
reform, die Vorbedingung für jedes weitere erfolgreiche
Bemühen. Änd die Leute erst in sittlicher Beziehung
empffndlicher geworden, so folgt die künstlerische Fein-
fühligkeit von selbft nach. Wag dabei der wlagen
einmal leer ausgehen und die Nachtruhe übersprungen
werden, das gleicht sich bald wieder aus, wenn nur
das Line, was Not thut, zurückgewonnen und das
Gewissen wieder voll wird.

Also die sittliche und künstlerische Lrhebung des
j?ublikums wird durch das polizeiliche Derbot ganzer
Ltücke die nicht in den Nahmen des von der Zensur als
alltäglich und hergebracht Anerkannten fallen, beein-
trächtigt, wohl gar unterdrückt, gewiß eine Thatsache
von schwerwiegendster Bedeutung und der ernstesten
Beachtung wert. Die Csuellen der Lrkenntnis werden
in der Zuschauermenge verstopft — woher soll da noch
der Sinn für das Bessere kommen? Zm Grunde ge-
nommen kann man nun gegen das publikum keinen
Dorwurf erheben, daß es nicht über seinen Horizont >

hinausgehe. wird es doch in einer gewissen kinder-
stubenmäßigen Abgeschlossenheit gehalten, in die nichts
hineindringen darf, was der, der sich für seinen Lr-
zieher und Beaufsichtiger hält, den Zöglingen für
schädlich erachtet.

Anderer Natur sind die Lingriffe, welche eine
wohlmeinende Zensur sich in den Grganismus von
Bühnenwerken erlaubt, aber darum nicht minder ge-
fährliche: ste wenden sich nicht gegen j?ublikum und
Dichter, sondern gegen die Dichtung selbst. Die Hand-
lung eines Dramas beruht auf dem Derhältnis von
Ursache und wirkung; wie jene, um das Bild einer
pendelbewegung zu gebrauchen, nach links schlägt, so
greift diese nach rechts aus; eine bedingt die andere,
ist notwendig für dieselbe. Lsebt man das Motiv auf,
so erscheint die That unverständlich; das Runstwerk ist
in seinem Znnersten erschüttert. Lolcher Art war die
Derletzung, welche sich die polizei bei der Zensur des
Trümpelmann'schen Lutherspieles zu Schulden kommen
ließ. Die l^andlung lief ja auf einen Gegenschlag
hinaus, den das christliche Bewußtsein gegen die tiefe
Gesunkenheit der römischen Uirche im sechszehnten
Zahrhundert that; will der erstere an seiner Nraft
nichts einbüßen, so darf bei der Schilderung der letz-
teren nichts gespart werden. Demgemäß ward der
Ablaßhandel Tetzels, in dem die Verworfenheit der
Zeit ihren sichtbarsten Ausdruck erhalten hat, offen
und unbeschönigt dargestellt. Die Scene mit dem
Zuden nun, die dem polizeilichen Deto zum Opfer ffel,
war nicht nur für sich betrachtet, schön, sie verstärkte
auch das tragende Niotiv des Dramas noch beträcht-
lich dadurch, daß sie den Ablaßhandel ohne weiteres
in f)arallele treten ließ mit dem Lchacher eines
Hebräers. Das Schnorren eines solchen ist an und sür
sich eine niedrige Handlung, aber steht es nicht noch
unendlich hoch über dem Lsandel mit himmlischen
Gnadengütern, den die Rirche für schnödes Geld
trieb? Diese grelle Beleuchtung, in welche durch
die Linführung des Zuden, der Teil haben will am
Geschäft, das Niotiv des Stückes gerückt ward, fiel
nun fort; dem Dichter ward damit seine ganze
Lsandlung unterhöhlt. Ls ward ihm auch das Recht,
das seine Nunst ihm mit der Nerpflichtung verliehen,
es wie ein k^eiligtum zu wahren, gekürzt, das: wahr
zu sein. Der Aufsatz der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung", der dazu bestimmt war, die darob aufge-
regten Gemüter zu beschwichtigsn, zeigte besonders,
in welch mißliches Verhältnis die Nunst gerät, wenn
nicht künstlerische Beweggründe ihr übergeordnet sind.
Da hieß es, man könne doch nicht dreihundert Zahre
nach der Verwirklichung des Neformationsgedankens
der katholischen Nirche alle die Nbißbräuche zum Dor-
wurf machen, welche einst zum werke Luthers geführt.
wie hinfällig dieser Linwand ist! Als ob es sich
überhaupt um Borwürfe gegen die heutige katholische
Nirche handelte! Als ob es nicht, wäre der Linwand
berechtigt, durch ihn überhauxt unmöglich gemacht
würde, Stoffe aus der Nergangenheit auf die Bühne
zu bringen! wer kann dann noch z. B. ein Schau-
spiel aus der Zeit der Freiheitskriege schreiben, in
welchem Haß, Freiheitsdurst und Daterlandsstolz sich
stählen und kräftigen, großgezogen an den Frevelthaten
der fremden Lroberer? Die Franzosen von heut stehen
ja nicht mehr im ^ande und auf dem Ltandpunkte
 
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