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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 19
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Riffert, Julius: Polizeiliche Zensur an Bühnenwerken
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0273

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oon damals, nnd es wäre eine Beleidigung für sie,
sie von Neuem an ihre verbrechen von einst zu er-
innern.

Aber die salsche Ausübung der Zensur sührt
noch tiefer hinab ins Berderben und tritt nicht nur
in gewaltsamen Nerletzungen zu Tage, wie sie ein-
zelnen Stücken zugesügt werden, und in der Unter-
drückung ganzer werke. Gewisse Stossgebiete werden
durch sie überhaupt von der Bearbeitung ausgeschlossen.
Ls ist schon setzt für den Dramatiker sast unmöglich,
in die vergangenheit des eigenen volkes zurückzu-
greisen, weil man da überall Tcken und Uanten be-
gegnet, an die nicht gestoßen werden darf, will man
nicht der wahrheit Gewalt anthun. Und das in den
Tagen, da unsere deutsche Geschichte uns endlich
wichtiger zu werden ansängt, als die jedes andren
volkes! Dramen, in denen die Schöpfer der neuesten
deutschen Zeit, die bsohenzollern, austreten, sind aus
einer Anzahl von Bühnen von vornherein untersagt,
aus anderen nur ausnahmsweise zugelassen. Stücke
vollends, die sich nrit der Gegenwart beschästigen, d. h.
nicht nur mit den gesellschastlichen Äußerlichkeiten,
sondern mit ihrem tieseren Gehalt, ihren inneren
Uonflikten, stnd geradezu verpönt. wir möchten den
Dichter sehen, der es z. B. wagen wollte, die Tragik
des Nihilismus aus die Scene zu bringen! U)as
bleibt nun da sür den j?oeten noch übrig? Nur das
was harmlos, nach der Zensurmeinung „nicht an-
stößig" ist. Und unter dem Zeichen der Leisetreterei
steht denn auch das Nepertoire des gesammten deut-
schen Theaters. Ls geht uns beinahe schon so, wie
zu Ansang des Zahrhunderts Börne, der nach der
Nückkehr Napoleons von Tlba einen Aussatz über
denselben geschrieben hatte; vom streichenden Zensor,
dem er vorgehalten, daß die Spitze sich ja gegen den
Uorsen richte, wurde ihm entgegnet: „Mind ist wind,
ob er nach Osten oder westen bläst — gleichviel.
Lr soll gar nicht blasen, wir wollen Nuhe haben."
Dasür durste der Gemaßregelte, „um die Zahnlücken
der Zeit damit auszusüllen", dann ungestört eine Gde
des Lsoraz übersetzen und einschieben — denn bsoraz
war nicht gesährlich. wir glauben, daß auch einem
modernen Uollegen des Börneschen Nhadamanthus
ein Stofs aus dem Altertum unbedenklich erscheinen
würde, selbst wenn es sich in ihm um das Sein oder
Nichtsein von Staat und Gesellschaft zu handeln hätte.
Aber das klassische Altertum liegt uns ja so sern!
Natürlich gerät infolgedessen unsere ganze dramatische
Runst in den Zustand eines Rörpers, dem eine Ader
unterbunden oder ein Glied abgeschnürt ward; nicht
nur diese beiden leiden, der ganze Leib siecht dahin.
Lin Beispiel dasür, wohin das geschilderte Absperrungs-
system sührt, kann man sich vor Augen halten, wenn
man das Rönigliche Schauspielhaus in Berlin betrachtet.
Tine gewisse Abgeschlossenheit des Nepertoires hat es
ja immer gewahrt, aber die Tinseitigkeit der künstle-
rischen Nichtung ist von Zahr zu Zahr größer ge-
worden, so daß augenblicklich alles Rühne und Selbst-
ständige von diesen Brettern, „welche die welt bedeuten",
geradezu verbannt ist, und nur noch das Zahme und
Akademische auf ein willkommen rechnen kann, das,
was Niemand zu Leide aber auch Niemand zur Lust
lebt. Linzig dieser bedauerliche Umstand trägt die
Lchuld, daß die bevorzugte und schöne Anstalt, welche

so unendlich Segensreiches wirken könnte, sich nicht
aus der Lsöhe ihrer Aufgabe gehalten hat. Man
sucht den Dersall neuerdings wieder aufzuhalten, aber
ohne Lrfolg! wenn man sich der Lrkenntnis der
wahren Ursachen des ^eruntergehens verschließt, wie
wir sie soeben gekennzeichnet haben, so werden alle
glänzenden Znscenirungen des „wallenstein" und
andere Negiekünfte nichts nützen und bessern, in denen
man das Heilmittel gegen die unaushörlich sortschreitende
Urankheit gefunden zu haben meint. <Ls blühen neben
den Röniglichen Schauspielen in Berlin mit einem
Ntale andere Theater in großer Anzahl und mit über-
raschendem Lrfolge aus; neidisch hat man deren Aus-
steigen aus eine wirksame Neklame und andere kleinliche
Uttttel zurückführen wollen. Nein, in diesen Wittel-
chen ist das Lmporkommen der wettbewerbenden
Unternehmungen allein nicht zu suchen. Das leitet
sich vielmehr aus der sreieren Bewegung her, welche
sich diese neuen Theater gestatten, aus dem weiteren
Horizonte, über den ihre Nepertoire gebieten, die so
frei und weit sind, wie die bestehenden Verhältnisse
sie ihnen eben gestatten. Die dramatische Uunst kann
aber nur gedeihen, wo ihr der nötige Athemzug er-
laubt wird, wie in den Zeiten des Aeschylus, Aristo-
phanes und Lhakespeare; fehlt dieser, tritt jene
puritanische Lngberzigkeit ein, von der soeben die
Nede gewesen ist, so gleitet sie bergab, wie die Lpoche
nach dem großen Britten beweist, oder unsere eigene
Zeit, in der, falls kein Linhalt geboten wird, das
Theater notwendig vollftändig vertrocknen oder ver-
snmpfen muß.

Der Leser wird keine vorschläge von uns verlan-
gen, wie die wunde, in die wir soeben den Finger
legten, zu schließen sei; die stehen gar nicht bei uns,
und ein wohlseiles „Möge es besser werden!" und einen
frommen wunsch als Lchluß wird man uns wohl er-
lassen. Unsre Ausgabe bestand hier in der Feststellung
des Thatbestandes, der unhaltbar ist; das weitere bleibt
der Aussprache der Nieinungen vorbehalten, die
an das Gesagte anknüpsen müßte. Durch sie erst wird
die Zensurfrage dem Zustande des Spruchreisen näher
gesührt werden, von dem sie sich jetzt noch fern be-
findet. Das verhältnis von Aunst und Ltaat, Thea-
ter und Zensur zu einander ist ein ZUachtverhältnis;
es wäre aber nicht unmöglich, daß der Ltaat sich
selbst überzeugte, daß es auch sür ihn besser wäre,
dieses Machtverhältnis in ein Nechtsverhältnis zu ver-
wandeln. Denn die Derluste, die dem Volke aus einem
ohnmächtigen Theater erwachsen, find doch nicht bloß
auf Nechnung seines Dergnügens zu setzen, sondern
greisen auch aus die des geistigen und sittlichen wohl-
befindens überhauptüber, und ein Mangel hier macht fich
auch auf jenen praktischen Gebieten bemerkbar, aus
deren Mege der Ltaat schon im eigenen Znteresse so
großes Gewicht legt. Zwei Leiten unseres modernen
Lebens stehen sich gegenüber, die eine mit ihren prak-
tischen Forderungen, die andere mit ihren idealen Be-
dürsnissen. Beide sind gleichsam Bewohner eines
Hauses, die, solange ihre Znteressen sich gleichen, sried-
lich nebeneinandör wohnen können; widerstrebt aber
einmal dem Nutzen des Linen das wollen des An-
dern, so geraten die Lsausgenossen aneinander, und
der Ltärkere erzwingt sich dann das Nachgeben des
Schwächeren. Dieser unterliegende Teil ist natürlich

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2S7 —

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