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Neuer General-Anzeiger: für Heidelberg und Umgegend ; (Bürger-Zeitung) — 1893 (Juli bis Dezember)

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No. 301 - No. 307 (21. Dezember - 30. Dezember)
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Nummer 307.

Neuer

Samstag, 30. Dezember 1893.


General-

Anzeiger

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Expedition u. Wedaktion: Knuptstr. Wr. 26.

für Heidelberg und Umgegend
(Würger-Zeitung).

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Jnsertionspreisr
die lspaltige Petitzcile oder deren Raum 8 Psg.,
für auswärtige Inserate 10 Pfg., bei öfterer Wieder-
holung entsprechender Rabatt.
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HekepHon-Anschluß: Wr. 102.
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LE" Zweites Blatt. -MW

Reujahrs-Atten und -Brunche.
Die Römer feierten das Neujahrsfest durch
Prunkhafte Aufzüge und ausgelaffene Gastereien;
den Germanen dagegen war der erste Tag des
Jahres anfangs ein Bet- und Bußtag. Sie
feierten ihn mit Opfern, Gesängen, Tänzen und
Schmausereien als eines ihrer größten Feste. Mit
der auf dem heiligen Eichbaume wachsenden Mistel
wurden die Altäre umhangcn, mit ihr bekränzten
sich die Priester. Sechs Tage später versammelte
sich das Volk. Feierlich wurden die Eichen um-
zogen, auf welchen die Mispel wuchs, die Priester
führten zwei weiße Stiere, die noch nicht im
Joche gewesen waren; heilige Lieder wurden ge-
sungen. Unter dem Eichbaum wurde geopfert,
ein Priester bestieg den Baum lind schnitt mit
einer goldenen Sichel die Mispel ab, welche unten
mit einem weißen Tuche aufgesangen wurde.
Dann stieg der Priester herab, die Stiere wurden
geopfert und feierliche Gebete gesprochen.
In späterer Zeit verlor das Neujahrsfest seinen
ursprünglich heiligen Charakter und wurde ein
allgemeines Vergnügungs- und Freudenfest, an
dem die heiteren Stimmungen die ernsten Be-
trachtungen überwogen. Verkleidete Banden durch-
zogen Städte und Dörfer mit Musik und Gesang;
es wurde geschwelgt, getrunken, gelärmt und „die
Welt — sagt ein alter Schriftsteller, — war
einige Tage hintereinander eitel voller Narren."
Zu einer wunderbar erhebenden Feier ist in
unserer Zeit das Neujahrsfest (Sylvester und Neu-
jahrstag) geworden. Wer von uns hätte nicht,
durchschauernd von Wehmuth und Seligkeit zu-
gleich, gelauscht, wenn die Glocken in Heller Sternen-
nacht das alte Jahr aus- und das neue einläuteten.
Ernste Betrachtungen über Vergangenheit rind
Zukunft beschäftigen uns. Bange Sorgen, Wünsche
rind Hoffnungen wechseln mit einander ab. Unser
Blick schweift zurück über das eben verflossene
Jahr und sucht forschend das Dunkel zu durch-
dringen. Thränen, schwere Seufzer hier, Worte
des Glückes und der Freude dort.
Und doch wird bei aller ernster Betrachtung
keine Nacht so allgemein verjubelt, als die Shl-
vesternacht. In saft allen Wohnungen sind die
Fenster erleuchtet; denn fast überall ist es Sitte,
die Mitteruachtsstnnde, sei es im Kreise der
Familie mit Freunden, Bekannten, und Ver-
wandten, sei es in geselligen Zirkeln, abzuwarten,
um das neue Jahr wachend anzutreten. Beim
dampfenden Punsch, diesem Freudeubringer, bei
Tanz, Gesang und Spiel verfließen die Stunden,
bis mit dem Glockenschlag Zwölf alle Stimmen
zu dem glückwünschenden „Prosit Neujahr" feier-
lich zusammenklingen.
Häufig erscheint in größeren Gesellschaften mit
dem Glockenschlag Zwölf ein als Nachtwächter ver-

kleideter Mann, um mit seinem Horn den Be-
ginn des neuen Jahres zu verkünden.
Nach einem uralten Aberglauben war den
Menschen in der Sylvesternacht ein Blick in die
Zukunft gegönnt. Klarer und deutlicher als je
sollten dem inneren Sinne die Räthscl des Lebens
und der Welt werden. Der Schleier, der die Zu-
kunft verhängt, fiel und das staunende Auge
schaute verhüllt die kommenden Ereignisse. Mancher-
lei Gebräuche sind mit diesen abergläubischen
Schicksalsforschungen verknüpft, die noch jetzt in
fast allen Familien mit Vergnügen geübt werden,
z. B. Blei zu gießen, Salzhäufchcn zu setzen,
Liebesorakel zu befragen. In einigen Gegenden
Deutschlands pflegen die Mädchen nach dem
Schasstall zu gehen und im Dunkeln nach den
Thiereu zu greifen. Fassen sic einen Hammel,
so heirathen sie im nächsten Jahre. Auch wird
an den Hühnerstall geklopft und das Geschrei des
Hahnes als sicheres Anzeichen einer Heirath noch
im selben Jahre betrachtet. In Oesterreich und
Baiern raffen die Mädchen eine Handvoll Kiesel
aus dem Bache. Ist die Zahl ungleich, so muß die
Arme sich noch ein Jahr trösten. Auch huldigt
man der Sitte des Pantoffelwersens. Das
Mädchen stellt sich mit dem Rücken gegen die
Thüre und wirft einen Pantoffel hinter sich.
Fällt er mit der Spitze nach außen, so steht die
Hochzeit der Werferin bevor. Bleigießen ist be-
kanntlich weit verbreitet, ebenso die Sitte der
Lebens- und Liebesschifflein, die brennende Licht-
chen in sich tragen.
In Vlümisch-Belgien fordert es die Sitte, daß
man allen Verwandten und Bekannten, allen
Freunden und Gönnern, persönlich ein „glückseliges
Neujahr" wünscht. Reiche Leute pflegten früher
vor ihren Häusern Tische aufzustellm, welche mit
Leckereien und feinen Getränken beladen waren,
von denen jeder Vorübergehende zulangen konnte
soviel es ihm beliebt.
Eine ähnliche Gastfreiheit soll jetzt noch aus
der Insel Helgoland stattfinden, wo 'zu Neujahr
in den Wirthshäusern nicht nur die Stammgäste,
sondern auch einzelne Fremde freie Zeche haben.
Ueberhaupt ist auf diesem meerumschlossenen, ein-
samen Felseneiland das Neujahrfest einer der leb-
haftesten Tage im Jahre. Das Glückwünschen,
wobei man sich nach den Umstünden „einen jungen
Freier", „eine junge Frau", „viele Schellfische",
stets aber ein „ruhiges Herz" wünscht, dauert
oft sechs Tage hindurch. In Schweden und
Norwegen wird am Nenjahrstage alles, was man
Kostbares an Geschirr von Silber, Porzellan und
Krystall besitzt, hervorgesucht, um sttrdie Gratulanten
das kalte Frühstück recht prächtig zu servieren.
Im Böhmerwald und anderen Gegenden ist jeder
bemüht, dem anderen mit seinem Glückwunsch zn-
vorzukommen. Im Limburger Lande nennt man
diese Sitte „überraschen", in Schwaben, in Tyrol
und an der Eifel „das Neujahr abgewinncn."
Der Beglückwünschte hat dem Glückwünschenden

ein Geschenk zu geben. Dieses Geschenk, Neu-
jährchen genannt, besteht in der Regel in einem
Weck oder einem kleinen Kuchen in Radform.
Im Havellandc legen Ackerbesitzer einen Bündel
Hei: vor ihr Gehöft lind lassen einen Schimmel
langsam durch das Dors lausen, ohne ihn zu
führen. Von wessen Heu der Schimmel nascht,
dem ist dies das Zeichen einer guten Ernte im
neuen Jahre.
Am Niederrhein ziehen die Burschen noch hier
und da in der Neujahrsnacht, sobald es zwölf ge-
schlagen hat, singend vor die befreundeten Häuser
und bringen ihre Grüße in Liedern dar. Auch
mit Musik wurde das neue Jahr „angeblascn", so
in vielen deutschen Städten noch jetzt vom Thurm
herab. Im Limburger Land war vornehmlich der
Brauch üblich, „das Neujahr anzuschießcn". Be-
sonders hielten es die Mädchen für ein schlimmes
Zeichen, wenn vor ihren Fenstern nicht geschossen
wurde. Die Zahl der Schüsse gilt ihnen als
Maßstab für die Stärke der Neigung ihrer Be-
werber, und zum Dank für diesen Liebesbeweis
stellen sie ihnen eine Flasche Wachholderbranntwein
an einen schon vorher bezeichneten Platz oder lassen
sie an einem Faden hinabgleiten.
In vielen Gegenden wird am Neujahrstag ein
besonderes Gebäck gebacken, das die Form von
Pferden, Schweinen und anderen Thieren hat; in
Schwaben hat es die Form eines Kranzes. Eine
besondere Sitte ist noch das Schenken zu Neujahr.
In Deutschland war es früher allgemeiner Brauch,
daß die Kinder am Neujahrstag zu ihren Pathen
gingen, um ihnen „das neue Jahr zu bringen",
wofür sie allerlei Geschenke erhielten. Dieses Ge-
schenk, „Neujahr" genannt, bestand aus Zuckerwerk,
oft auch Kleidungsstücken und baarem Geld. In
Schlesien fand ein allgemeiner Neujahrsumgang
statt, ein Brauch, der oft ausartete. In Städten
durchzogen der Rektor oder Kantor mit Sängern,
der Stadtmusikus mit seinen Gehilfen, der Nacht-
wächter und Todtengräber, Schornsteinfeger und
Thürmer oft mehrere Tage, Gaben heischend, die
Stadt. Auf dem Lande gingen die Organisten
von einigen Knaben begleitet, vom Neujahrstage an
von Haus zu Haus und sangen ein Lied, wofür
sie ein Geldgeschenk erhielten. Auf manchen Dörfern
hielten die Pfarrer sogar in eigener Person einen
Neujahrsumgang. In Holland und Norddeutschland
pflegten die Geistlichen in Begleitung des Küsters
zu Neujahr von Haus zu Haus ihre Gefälle cin-
zusammeln, die in Brot, Eiern, Käse, Speck,
Schinken, Wurst, Geflügel, bestanden. Noch jetzt
erinnern in den Städten die verschiedenen um
Gaben bittenden Neujahrsgratulanten an die, auch
in anderen Ländern übliche Sitte des Neujahrs-
umgangs.
Auf manchen Gutshöfen versammeln sich die
Knechte am Sylvcsterabend auf dem Hofe und
geben der Herrschaft mit ihren Peitschen ein Knall-
konzert. In Berlin ißt man am Sylvester-Abend
gewissenhaft Fische; wer von den Schuppen derselben

einige in sein Geldtäschchen steckt, hat Glück un
Geld für das kommende Jahr. Ein Blatt Grün-
kohl hinter den Spiegel gesteckt, soll die Gesundheit
der ganzen Familie im nächsten Jahre erhalten.
Im alten Berliner Bürgerhause fehlt am Neujahrs-
tage selten dieses Gemüse auf demMittagstische,
während man in Bauern Krautsalat vorzielst und
Spanferkel dazu.
Zum Schlüsse sei noch ein eigenthümlicherjBrauch
erwähnt, der in einigen Dörfern des Elsasses herrscht,
zum Neujahr den Brunnen mit einem „Mai" zu
schmücken. Die jungen Mädchen verschaffen sich
einen Tannen- oder Stechpalmenbaum, zieren ihn
mit Bändern, Eiern, kleinen Figuren und stecken
den geschmückten Baum auf den Brunnen. Am
Abend wird der Schnee um den Brunnen sorg-
fältig weggekehrt, und die Mädchen tanzen singend
einen Reigen, an dem sich die jungen Burschen
nur mit ihrer Erlaubniß betheiligen dürfen.
Wermischtes.
— Als ein Lotteriekuriosnul wird aus
Königsberg in Pr. mitgetheilt, daß der dort
jetzt als Rentier lebende Herr Th. seit nahezu 59
Jahren ein Loos der preußischen Lotterie spiele,
dessen Nummer noch nicht ein einziges Mal gezogen
worden ist. Es ist dies die Nummer 55187.
Der jetzt 74 Jahre alte Herr Th. hat das Loos
als Angebinde zu seiner Konfirmation erhalten und
es seit jener Zeit unverdrossen weitcrgespielt, obwohl
darauf, wie gesagt, noch nicht der geringste Gewinn
gefallen ist. Man weiß nicht, über was man sich
mehr wundern soll: di- Hartnäckigkeit, mit welcher
die Nummer den Fingern des „ziehenden Waisen-
knaben" entschlüpft, oder die Ausdauer, mit welcher
Herr Th. immer wieder die Einsätze für das merk-
würdige Loos erneuert.
— Ein braver Mann. Auf der Moskauer
Universität sollten kürzlich eine ganze Menge
Studenten wegen Nichtzahlung der Kollegiengelder
relegirt werden. Die dortigen "Blätter brachten diese
Mittheilung und eines warf dabei die Frage auf,
ob sich denn wirklich in dem reichen Moskau kein
Mensch finden sollte, der durch Bezahlung der
ganzen Schuld den arnien Studenten die Fortsetzung
ihrer Studien ermöglichen würde? Tags darauf
bereits betrat ein behäbiger russischer Kaufmann
die Universitäts-Kanzlei. „Ist es richtig — wandte
er sich an einen der Beamten —, was da gestern
in der Zeitung stand? Werden alle die Studenten
fortgejagt, welche dieKollegiengelder noch schulden?"—
„Ja, das ist so." — „Und wieviel machen viefe
Kollegienschulden?" — „4800 Rubel." — Be-
dächtig griff der Kaufmann in seine Brusttasche,
holte eine dicke wohlgespickte Brieftasche hervor,
entnahm ihr einen Pack Geldscheine und begann
sie vor dem Beamten auf den Tisch zu zählen.
„So, hier sind die 4800 Rubel! Urostsoliaito
(Adieu)!" Sprachs und ging hinaus, ohne weiter
ein Wort zu verlieren. Den Namen des braven
Mannes weiß man bis heute noch nicht.

ALe^cr
oder
Auf dunklen Wegen.
Roman von Dr. Ed. Wagner.
26) (Fortsetzung.)
Lady Wolga lehnte sich gegen die Fensterpfeiler
und preßte beide Hände auf die stürmisch und
sehr unregelmäßig wogende Brust, welche von einer
namenlosen großen Angst erfüllt war.
Sie war nie wieder innerhalb der Mauern des
Schlosses Mont Heron gewesen seit der Stunde,
wo sie es in Scham und Schmach verlassen hatte,
an demselben Morgen, an dem ihr Gatte als
muthmaßlicher Mörder seines Bruders verhaftet
worden war. Sie hatte früher stets gedacht, daß
sie es nicht über sich gewinnen könnte, es wieder
zu betreten; aber nun erfaßte sie eine große Sehn-
sucht, die Räume noch einmal zu sehen, in denen
sie so glücklich war. Sie würde die Hälfte ihres
Vermögens hingegeben haben, hätte sie wieder
einmal allein in jenen großen Räumen gehen,
wieder in ihrem Privatgemach sitzen und in der
Ammenstube, geheiligt durch das Andenken an ihr
Kind, welches dort zwei heitere kurze Jahre ver-
lebte, knieen können.
Mit solchen Gedanken beschäftigt, stand sie
noch da, als ein Wagen den Sandweg entlang
kam, den sie wohl sah, aber doch nicht beachtete,
und sie stand noch an derselben Stelle, als nach
einiger Zeit Felice wieder mit einem Briefe eintrat.
Lady Wolga setzte sich auf einen Divan. Ihre
Schwäche und Abgespanntheit entging der Auf-

merksamkeit des Mädchens nicht, welches jedoch
zartfühlend genug war, keine Bemerkung darüber
zu machen.
„Verzeihen Sie, Mylady", sagte Felice; „aber
Sie sagten mir, daß Sie diesen Morgen nicht
gestört sein wollten, es sei denn in dringenden
Geschäften, und so wollte ich Niemanden zu Ihnen
lassen."
„Und dies ist ein dringendes Geschäft?"
„Ja, Mylady. Eine junge Dame ist in
einem Wagen aus dem Dorfe Mont Heron ge-
kommen. Ich habe sie selbst gesehen; denn ich
ging gerade durch die große Halle, als sic Janies
den Brief gab, und ich erbot mich, ihn zu Ihnen
zu bringen. Sie ist die schönste junge Lady, —
eine wirkliche Lady, — die Sie jemals gesehen
haben, — glauben Sie mir, Mylady; und ich
bin überzeugt, daß sie einer vornehnien Familie an-
gehört. James zeigte sie in das Empfangszimmer
und dort ist sie jetzt."
„Eine junge Dame, unbegleitet", sagte Lady
Wolga. „Wahrscheinlich ist sic eine von den
Sommergästen des Dorfes, welche das Haus und
die Anlagen zu sehen wünscht."
Sic nahm den Brief und öffnete ihn. Das
Couvert enthielt einen einfachen weißen Brief-
bogen, ohne Monogramm oder Wappen. Die
Schrift war zierlich, aber doch fest und charak-
teristisch.
Der Brief war von Alera Strange, welche
darin einfach erklärte, daß sie eine Fremde sei, und
daß sie im Dorfe gehört habe, daß Lady Wolga
Clyffe eine junge Dame als Gesellschafterin ge-
halten, daß das Mädchen aber, welches diese

Stelle bisher inne gehabt, an der Ausübung ihrer
Pflichten durch Krankheit verhindert sei, weßhalb
sie, Alexa, sich erlaube, um die Stelle nachzusuchen.
Sie könne gute Referenzen aufweisen und sei
überzeugt, sich die Zufriedenheit der Lady Wolga
Clyffe zu erwerben, sollte ihr dazu Gelegenheit
geboten werden. Schließlich bat sie dringend um
eine Unterredung.
Die Lady las den Brief aufmerksam zum
zweiten Male. Der gänzliche Mangel an Unter-
würfigkeit und Schmeichelei in dem Schreiben
fiel ihr auf. Die Schreiberin war ohne Zweifel
eine wirklich gebildete Dame. Die Ausdrucks-
weise, der Stolz, selbst die Handschrift ge-
fielen ihr.
„Lies den Brief, Felice," sagte sie, ihn der
Dienerin hinreichend. „Du hast gewöhnlich ein
gutes Urtheil über den Charakter der Menschen.
Sage mir, was Du von Miß Strange denkst."
Felice las den Brief und sprach sich dann zu
Gunsten Alexas aus.
„Ich bitte Sie, Mylady, sie zu sehen," sagte
sie. „Sie hat ein Gesicht wie ein Engel; und
wenn sie so gut und geschickt ist, wie schön, so
werden Mylady einen Schatz in ihr finden."
„Du bist enthusiastisch, Felice. Aber da sie
einmal hier ist, kann ich sie wenigstens sehen;
und ich muß doch eine Gesellschafterin haben.
Führe sie herein."
Felice entfernte sich und eine Minute später
trat Alera ins Zimmer.
Des Mädchens Herz schlug heftig, das Blut
wollte rascher; alle Sinne schienen ihr zu schwinden;
aber der Gedanke an ihren Vater und an ihre

Sendung brachten sie wieder zu sich selbst. Wenn
es auch noch in ihr stürmte, so faßte sie sich ge-
waltsam und verneigte sich vor der stolzen Lady,
welche sich erhoben hatte, um sie zu empfangen.
Da stand sie von Angesicht zu Angesicht vor der
Frau, die ihren Vater eines feigen und entsetz-
lichen Verbrechens schuldig geglaubt und in der
Stunde der schwersten Prüfung herzlos verlassen
hatte, vor der Frau, die er noch liebte und ver-
ehrte, nach der er sich so sehnte mit dem ganzen
Feuer seines edlen Herzens; vor ihr, deren Arme
sie in ihrer zartesten Kindheit behütet, an deren
Herzen sie geruht, an deren Brust sie die ersten
Thränen vergossen und zuerst gelächelt hatte, welche
sie doch geliebt haben mußte mit ganzer Zärtlich-
keit, — vor ihrer Mutter!
Und vor dieser stand das Kind ihres Herzens,
frenid der eigenen Mutter, welcher sich ihre ganze
Seele zuwendete. Vom Ueberfluß des Reichthums
umgeben, lachte das Glück aus den Augen der
schönen Lady, während ihr Gatte im fernen Lande,
verkannt und verurtheilt von der Welt, feine trüben
Tage verlebte. Nur dieses einzigen Gedankens be-
durfte es, um Alexa ihre Ruhe wiederzugeben; sie
mußte unerkannt bleiben, wollte sie ihre Aufgabe
erfüllen, und es galt, Alles daranzusetzen, das
furchtbare Dunkel zu lichten, welches jenes Ver-
brechen, um dessentwillen ihr Vater litt, einhüllte.
Und doch zog ein kaum zu besiegendes und so er-
klärliches Gefühl Alera hin zu ihrer Mutter und
sie bedurfte ihrer ganzen Kraft, um nicht die
Arme auszustrecken und „Mutter, ich bin Kon-
stanze, Dein todtgeglaubtes Kind!" zu rufen.
(Fortsetzung folgt.)
 
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