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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 5.1913

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2. Heft
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Gebhardt, Carl: Monticelli
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https://doi.org/10.11588/diglit.26374#0081

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MONTICELH

Mit 4 Abbildungen / Von CARL GEBHARDT

T Tm die großen, die fchöpferifchen Meifter zu vergehen, braucht man nur ihr Werk,
U nicht ihre Zeit zu kennen. Sie feibft ja fprechen das le^te, tieffte Geheimnis ihres
Jahrhunderts aus; wie Jolite da, was auf den Gaffen ift, ihr Geheimnis heilen. Aber
es gibt andere Künftier, minderen Ranges zwar, auch fie ganz wurzelnd im Boden
ihrer Zeit. Aber die Wipfel ihrer Kunft erheben fich nicht hinauf in die Zeitlofigkeit
reiner Menfchlichkeit und ihre Wurzeln reichen nicht herab zu den letzten Tiefen
des Seins. Söhne der Zeit, aus ihrer Zeit geboren und nur zu verftehen in ihrer Zeit.
Um Delacroix zu begreifen oder Manet, braucht man keine Kulturhiftorie. Aber
bei Monticelli wird man das Wefentliche unerklärt laffen, wenn man vom rein Künft-
lerifchen her ihm naht. Vielleicht gibt es in der franzöfifchen Kunft keinen andern,
der fo ganz Zeitfehnfucht, fo ganz Zeit gewefen ift wie diefer.
Monticelli ift second empire. Es gibt Zeiten, die ihr Wefen nicht aus fich feibft
gefchaffen, die ganz nur Produkt der Epoche find, die ihnen voraufgegangen. So hat
das Barock, Gefühl und Gedanken in fefte Formen engend, das mit dem Fühlen und
Denken nur noch fpielende Rokoko hervorgebracht. Und fo hat das second empire
all feine Realität vom Imperium Napoleons. Seine Grenzen find ja nicht durch die
Regierungszeit des dritten Napoleon beftimmt: es beginnt fchon in den Anfängen des
Juli-Königtums und endet, da mit Mac Mahon eine Generation vom Schauplaß ab-
tritt. Sein Sinn liegt außerhalb feiner, in einer Vergangenheit, zu der nur der Traum
zurück den Weg findet, Man muß fich ein Volk denken, dem das Märchenhafte
Wirklichkeit gewefen war, dem in einem Dezennium zuteil geworden, was andere
Völker nur in Jahrhunderten errungen, eine
Weltmacht, die von den Säulen des Her-
kules bis zu den Pyramiden, von der Straße
von Meffina bis zum Kurifchen Haff ihre
fiegreichen Fahnen getragen. Schwer fich
vorzuftellen, welche Erfchütterung folches
Erleben dem Bewußtfein eines Volkes be-
deutet, fchwerer, wie diefes Volk, als der
imperiale Märchentraum zerronnen, die Wirk-
lichkeit ertragen. Nur eine Möglichkeit gab
es, fich abzufinden mit dem trüben, demüti-
genden Alltag — die Phantafie. Und die
Phantafie erbaut wieder, was eine feind-
liche Realität zerftört. Nach Macht, nach
fchrankenlofer, magifcher Macht geht die
Sehnfucht, nicht nach einer erarbeiteten,
durch Arbeit bezahlten Macht, fondern nach
einer, die die Magie der Phantafie aus dem
Nichts hervorzaubert. Macht, durch Phan-
tafie gewonnen, ift das Signum der Zeit.
Man führt einen Leichnam über die Meere
zurück, um noch einmal den zerronnenen
Traum zu träumen. Macht durch Phantafie
wird das Thema der Literatur und Dumas'
Monte Chrifto macht feine Karriere. Die MONTICELLI, Akt


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