Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 13.1921
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https://doi.org/10.11588/diglit.27278#0469
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Heft 15/16
DOI article:Schmitz, Hermann: Die Bildteppiche und der dekorative Stil
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Die Bildteppiche und der dekorative Stil
Ai;7 6' Von /VEAVd/tN/V ^CVAt/DZ
*T*\as große und ftändig wachfende Intereffe, das gegenwärtig Sammler, Künftler
) und Kunftforfcher der Bildteppich- oder Gobeiinwirkerei entgegenbringen, ßat
zum Ceil [eine tiefere ürfacße in dem neubeiebten Verhältnis zu dem eigentlich
Dekorativen in der Kun[t überhaupt. Als vornehm[ter Schmuck der Wand mußte der
europäi[che Bildteppich zunächft den gleichen Bildungsgefc^en und der gleichen Stil-
entwicklung wie die Wandmalerei unterliegen. Aber darüber hinaus wohnen der Bild-
wirkerei ihrem technifchen und künftlerifchen Wefen gemäß ganz be[ondere Bedingni[[e
zur Ausbildung einer dekorativen [tili[ierenden Formengebung inne. Die Umfe^ung
der Natureindrücke und Vorftellungen in eine höhere ideele Kunftfprache erfolgt in ihr
gewiffermaßen mit Notwendigkeit. Schon die Technik führte dazu. Der Bildwirker
fet^t wie der Mofaikkünftler fein Bild gewiffermaßen aus nebeneinander geteilten
Farbenßecken zufammen. Während jener fein Gemälde auf einen feften Mauergrund
aufträgt, fchafft der Bildwirker Fläche und Bild zugleich, indem er Faden neben Faden
mit der Spule oder Nadel in die aufgefpannten Kettfäden flicht. Er läßt im Anfang
der Entwicklung die Farbfläcßen gerade gegeneinander ftoßen; fpäter vermag er durch
Verzahnung die Farben ineinander übergehen zu laffen. Doch ift es ihm verfagt, wie
der Maler durch Aufträgen von Farben, durch Auffe^en von helleren und dunkleren
Dünen nachträglich Abftufungen, Lichter und Schatten, Brechungen und Verfchmelzungen
hervorzurufen. Der Gobelinwirker muß alfo von vornherein die Farbtöne endgültig
vor Augen haben. Er muß [ich den Karton, die Patrone oder originalgroße Vorzeich-
nung vor der Arbeit genau in ihre Farbenwerte zerlegen. Diefen Karton hat er beim
wagerechten Wirkftuhl — Basselisse — unter der Kette liegen; er wirkt ihn dann im
Gegenfinne. Beim aufrechten Wirkftuhl, wie er namentlich in der Parifer Gobelin-
manufaktur üblich ift — Fjautelisse — hängt der Karton hinter dem Wirker, fo daß
der ißn bei der Arbeit im Spiegel fiet)t. Im allgemeinen — das gilt namentlich von
den Werkftätten bis zur Renaiffance — muß [ich der Bildwirker an eine befcßränkte
ßaßl von Farben halten. Es ift klar, daß alle diefe äußeren Bedingniffe fchon der
Formen- und Farbengebung der Bildwirkerei ein beftimmtes flächenmäßiges, dekoratives
Stilgepräge geben mußten. .
Und doch trot^ diefer von Fjaufe aus in ihr wirkenden Befchränkungen begleitet die
europäifche Bildteppichkunft in ihrem ganzen Verlauf die Gefehlte der Malerei in
dem Beftreben auf ftetig gefteigerte malerifche und räumliche Wiedergabe der Natur!
Von den ftrenggezeichneten tektonifchen Wandbehängen des 12. Jahrhunderts — deren
hervorragendfte geugniffe die Dorfalien im Fjalberftädter Domchor find — bis zu den
duftigen, licht- und raumerfüllten Schöpfungen, die in der zweiten Fjälfte des 18. Jahr-
hunderts nach Bouchers Gemälden in Paris und Beauvais entftanden, kann man den
ftufenweifen Fortgang der Darftellungsweife des Abendlandes vom Flächenmäßig-
Linearen zum Malerifch-Raumhaften lückenlos auch in der Bildwirkerei verfolgen. Nun
ift aber das Eigentümliche — und dies ift die Kernfrage der künftlerifchen Seite der
Sache: daß die Bildwirkereien der h'^orifchen Stile, das heißt bis zum Ende des
18. Jahrhunderts bei all der zunehmenden Naturanfchauung und plaftifch räumlichen
Vervollkommnung doch ftets die Grundgefe^e der Fläche, der dekorativen Bedingungen
einhalten. Erft mit dem Klaffizismus und der Romantik um 1800 gerät diefes Ver-
hältnis zwifchen Naturwiedergabe und Flädpgkeit aus dem fchönen Gleichgewicht, das
Der Cicerone, XHI. Jal)rg., Qeft 15/16
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*T*\as große und ftändig wachfende Intereffe, das gegenwärtig Sammler, Künftler
) und Kunftforfcher der Bildteppich- oder Gobeiinwirkerei entgegenbringen, ßat
zum Ceil [eine tiefere ürfacße in dem neubeiebten Verhältnis zu dem eigentlich
Dekorativen in der Kun[t überhaupt. Als vornehm[ter Schmuck der Wand mußte der
europäi[che Bildteppich zunächft den gleichen Bildungsgefc^en und der gleichen Stil-
entwicklung wie die Wandmalerei unterliegen. Aber darüber hinaus wohnen der Bild-
wirkerei ihrem technifchen und künftlerifchen Wefen gemäß ganz be[ondere Bedingni[[e
zur Ausbildung einer dekorativen [tili[ierenden Formengebung inne. Die Umfe^ung
der Natureindrücke und Vorftellungen in eine höhere ideele Kunftfprache erfolgt in ihr
gewiffermaßen mit Notwendigkeit. Schon die Technik führte dazu. Der Bildwirker
fet^t wie der Mofaikkünftler fein Bild gewiffermaßen aus nebeneinander geteilten
Farbenßecken zufammen. Während jener fein Gemälde auf einen feften Mauergrund
aufträgt, fchafft der Bildwirker Fläche und Bild zugleich, indem er Faden neben Faden
mit der Spule oder Nadel in die aufgefpannten Kettfäden flicht. Er läßt im Anfang
der Entwicklung die Farbfläcßen gerade gegeneinander ftoßen; fpäter vermag er durch
Verzahnung die Farben ineinander übergehen zu laffen. Doch ift es ihm verfagt, wie
der Maler durch Aufträgen von Farben, durch Auffe^en von helleren und dunkleren
Dünen nachträglich Abftufungen, Lichter und Schatten, Brechungen und Verfchmelzungen
hervorzurufen. Der Gobelinwirker muß alfo von vornherein die Farbtöne endgültig
vor Augen haben. Er muß [ich den Karton, die Patrone oder originalgroße Vorzeich-
nung vor der Arbeit genau in ihre Farbenwerte zerlegen. Diefen Karton hat er beim
wagerechten Wirkftuhl — Basselisse — unter der Kette liegen; er wirkt ihn dann im
Gegenfinne. Beim aufrechten Wirkftuhl, wie er namentlich in der Parifer Gobelin-
manufaktur üblich ift — Fjautelisse — hängt der Karton hinter dem Wirker, fo daß
der ißn bei der Arbeit im Spiegel fiet)t. Im allgemeinen — das gilt namentlich von
den Werkftätten bis zur Renaiffance — muß [ich der Bildwirker an eine befcßränkte
ßaßl von Farben halten. Es ift klar, daß alle diefe äußeren Bedingniffe fchon der
Formen- und Farbengebung der Bildwirkerei ein beftimmtes flächenmäßiges, dekoratives
Stilgepräge geben mußten. .
Und doch trot^ diefer von Fjaufe aus in ihr wirkenden Befchränkungen begleitet die
europäifche Bildteppichkunft in ihrem ganzen Verlauf die Gefehlte der Malerei in
dem Beftreben auf ftetig gefteigerte malerifche und räumliche Wiedergabe der Natur!
Von den ftrenggezeichneten tektonifchen Wandbehängen des 12. Jahrhunderts — deren
hervorragendfte geugniffe die Dorfalien im Fjalberftädter Domchor find — bis zu den
duftigen, licht- und raumerfüllten Schöpfungen, die in der zweiten Fjälfte des 18. Jahr-
hunderts nach Bouchers Gemälden in Paris und Beauvais entftanden, kann man den
ftufenweifen Fortgang der Darftellungsweife des Abendlandes vom Flächenmäßig-
Linearen zum Malerifch-Raumhaften lückenlos auch in der Bildwirkerei verfolgen. Nun
ift aber das Eigentümliche — und dies ift die Kernfrage der künftlerifchen Seite der
Sache: daß die Bildwirkereien der h'^orifchen Stile, das heißt bis zum Ende des
18. Jahrhunderts bei all der zunehmenden Naturanfchauung und plaftifch räumlichen
Vervollkommnung doch ftets die Grundgefe^e der Fläche, der dekorativen Bedingungen
einhalten. Erft mit dem Klaffizismus und der Romantik um 1800 gerät diefes Ver-
hältnis zwifchen Naturwiedergabe und Flädpgkeit aus dem fchönen Gleichgewicht, das
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