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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 1.1887-1888

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Heft 14
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11723#0195

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ungemein mühsame, auf Orthographie und Inter-
punktion verwandte Arbeit auch von subalterneren
Geistern geleistet werden können. Goethe selbst über-
ließ dergleichen Fragen meist Anderen, zuletzt dem
Faktor der Lottaschen Druckerei und dem j?hilologen
R. Göttling. Deren Thätigkeit mit so übertriebener
Lsochachtung und Rücksicht zu behandeln, ist wirklich
gar zu bescheiden. — Als Norm für die neue Aus-
gabe wird durchweg die „Ausgabe letzter Hand" zu
Grunde gelegh und nur aus „zwingenden Gründen"
wird eine Abweichung zu Gunsteii der Lsandschriften,
der älteren Drucke oder einer selbständigen Textkritik
gestattet. Demgemäß wird der Leser durch allerhand
ungewohnte wortbilder gestört. Doch halt! Bei
einem Buchstaben haben die Herren sich getraut, eine
Ausnahme zu machen und auf das gegenwärtig
Übliche Rücksicht zu nehmen: sie haben nach „pein-
licher Überlegung" das Zeichen y, „an dem nichts
Lautliches haftet", aufgegeben und durch i ersetzt.
Alle Hochachtung! „peinliche Überlegung" ist gut,
sagt der Berliner. Nespektlose Leute, die keine rechte
Ahnung von der Wichtigkeit eines Bnchstabens haben,
sollen sich über diese „peinliche Überlegung" sehr er-
heitert haben. wir für unsere person hätten es ein-
facher und passender gefunden, wenn man durchweg
die Nechtschreibung unserer Tage zu Grunde gelegt
hätte. Sollte wirklich einmal die ursprüngliche Schreib-
weise von Belang sein, oder sollte Iemand durchaus
nicht die Nlarotte bemeistern können, genau in der
alten von Goethe selbst geschriebenen oder doch ge-
billigten Schreibweise seine worte zu lesen, — nun,
so stehen in allen öffentlichen und tausenden von
j)rivatbibliotheken die Originalausgaben der Goethe-
schen kDerke wohl Iedermann zur Derfügung. Aber
es scheint fast, als ob die neue Ausgabe überhaupt
nicht für harmlose Goethefreunde bestimmt sei,
sondern lediglich für die kleinen Goethegelehrten.
Dafür spricht auch die große Fülle des in den „Les-
arten" gebotenen Nlaterials, von dem schlecht gerechnet
drei Diertel für ein gräßeres sDublikum unbrauchbar
ist. Suphan selbst meint, man werde mit der Zeit
zu einer noch knapperen Behandlungsweise gelangen.
Freilich, die Goetheforscher werden über all die ge-
botenen Tinzelheiten in Lntzücken geraten: was für
Oualität und welches Format das j?apier der bsand-
fchriften hat, ob eine Rorrektur mit Rötel oder Blei-
stift, mit roter oder schwarzer Tinte ausgeführt ist,
alle ausgestrichenen Zeilen, Ausgestrichenes im Ge-
strichenen und dergleichen mehr. Zmmerhin ist auch
die Zahl der allgemein interessierenden Darianten eine
große. So läßt sich der von Erich Lchmidt entdeckte
„Urfaust" der Göchhausenschen Abschrift — mit einiger
Niühe freilich — aus den Lesarten zusammensuchen.
Als ganz Neues enthalten die Gedichte einige bisher
unterdrückte römische Llegieen und venetianische Lpi-
gramme. Diese für den sittenstrengen Biedermann
nicht ganz einwandfreien Gedichte sind mit einer ge-
wissen „sichtbaren Unvollständigkeit", d. h. mit An-
standslücken, wie wir sie bei Goethe fa auch sonst
sinden, nicht im Text, das wäre wohl allzusehr gegen
den Respekt gegen die Ausgabe letzter bsand, sondern
ebenfalls unter den Lesarten abgedruckt. Dahingegen
sind andere noch vorhandene, seiner Zeit auf der
großherzoglichen Bibliothek zu Weimar niedergelegte

Gedichte, die nach Tckermanns Zeugnis überhaupt
nicht veröffentlicht werden sollten, darunter das viel-
genannte „Tagebuch", auch von dieser vollständigsten
Ausgabe ausgeschlossen worden. wir bekennen offen,
für eine solche fAetät kein rechtes Derständnis ge-
winnen zu können. Glaubt man Goethes feststehen-
den Nuhm irgendwie besser zu wahren, indem man
einige Gedichte unterdrückt, gleichzeitig aber immer
konstatiert, daß es antikirchliche, erotische, priapische
verse von ihm gibt? Oder wollte man grundsätz-
lich nur das aus dem Nachlaß veröffentlichen, was
Goethe selbst ausdrücklich für den Druck bestimmt
hat? Dann hätte man weder die römischen Elegieen
(auch nicht mit Lücken), noch die Tagebücher und
Briefe, noch vieles andere herausgeben dürfen. Oder
wollte man sich sklavisch ans wort binden und nur
direkt ausgesprochene Derbote respektieren? Dann
hätte man ruhig Llegieen und Lpigramme lückenlos
abdrucken sollen, denn für diese besteht ein solches
Derbot nicht. Auch in der gegenwärtigen Gestalt
sind sie deutlich genug, ja das Nachsinnen über die
unterdrückten Stellen macht die Sache nur schlimmer.
Zn Bezug auf jenes gegen Lckermann einmal ge-
äußerte Verbot bekennen wir ehrlich, kein so überaus
strenges Gefühl des Gehorsams hegen zu können.
wären die betreffenden Gedichte völlig wertlos oder
unwürdig, so hätte sie Goethe wohl vernichlet, statt
sie auf der Bibliothek zu deponieren. Zedenfalls sind
sie als dichterische Lrzeugnisse immer noch unendlich
wertvoller und für Goethes f?erson kennzeichnender,
als viele andere mühsain hervorgesuchte und zwecklos
ans Tageslicht gezerrte Zeilen. Auf keinen Fall
können wir in den zur Anwendung gelangten Grund-
sätzen Ronsequenz entdecken. Tntweder man lasse
alles Anstößige aus dem Nachlaß fort, oder man
drucke einfach alles Dorhandene ohne viel Gerede
ab. Daß vollends die in vielen tausend Lxemplaren
über Deutschland verbreiteten, keineswegs besonders
schlimmen Stanzen „das Tagebuch" nun doch in der
vollständigsten Ausgabe fehlen, ist wirklich recht sonder-
bar und schrullenhaft.

Trotz dieser mancherlei Ausstellungen können wir
natürlich nicht umhin, diese erste auf den vollständigen
Nachlaß gegründete, auch äußerlich gediegen ansge-
stattete Ausgabe der Goetheschen werke mit Freuden
zu begrüßen. Zhr Text wird künftig ausschließlich
allen etwa neu entstehenden Ausgaben und Auflagen
zu Grunde gelegt werden. Sollte einmal ein Heraus-
geber wohl den Mut haben, alle Gedichte ohne Nach-
träge und Anhänge nach ihrer Zusammengehörigkeit
in die von Goethe selbst geschaffenen Nubriken einzu-
ordnen und eine Ausgabe zu schaffen, die weder durch
störende Zllustrationen, noch durch ungewohnte alte
Orlhographie, noch durch zudringliche Anmerkungen
den Genuß beim Lesen irgendwie beeinträchtigt?
Zedenfalls besitzen wir Deutsche eine solche Ausgabe
bis fetzt noch nicht! Larl Lrdmann.

DLcdtung.

Zn einem Aufsatz „Äber lvrisede poesie"
(Nlagazin t'k, tö) wendet sich Gras A. F. v. Schack
kräftig gegen die verbreitete Auffassung, daß sich die
Lyrik „im einfachen Ansdrucke einer Lmpfindung er-
schöpfe" und daß in erster Reihe die Langbarkeit den


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