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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Ompteda, Georg: Der Spiegel, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0165

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70 MODERNE KUNST. MODERNE KUNST. 71

Es war Premiere in der Oper, wir hatten die Billets für diesen Tag
seit langem zurückhalten lassen, und nun sollte alles umsonst sein.

Die ganze Freude in’s Wasser gefallen!

Wuth überkam mich zuerst, Wuth angesichts des Todes meiner Mutter.
Das dauerte nur einen Augenblick, aber die Regung war doch da gewesen.
Und die wiegt schwer im Schuldbuche meines Selbstbildes.

Dank schuldete ich meiner Mutter, heissen Dank, nur Dank.

Mit einer Undankbarkeit habe ich unser Zusammenleben abgeschlossen.
Der Spiegel zeigt mir kein Bild, keine Furche in meinem Pharisäergesicht.
Er verschmäht das Gemeinste wiederzugeben: die Undankbarkeit.

Nun habe ich versucht, mich bis zum letzten zu ergründen, und den-
noch ist mir soviel dunkel geblieben. Einzeln habe ich Strich an Strich
gesetzt, aber kein ganzes Bild gewonnen. Der Spiegel sollte mir ein ganzes
Bild zeigen können.

Mir fällt was ein: der Verbrecherkopf, den ich im Glase sah. Ein
Schauer läuft mir über den Leib. Nur das nicht wieder. Nur das nicht.

Bis zum 1 ode meiner Frau habe ich ihr das Geheimniss nicht enthüllh
das uns zusammengeführt hat. Als sie auf ihrem letzten Bette lag, rang
ich mit mir, es ihr zu offenbaren. Ich fühlte, es war zu spät. Es wäre
nicht mehr möglich gewesen, ich hätte sie getödtet durch das Bekenntniss.

Sie fragte mich, ehe sie starb: „— Hast Du mich imrrier lieb gehabt?“

„— Immer!“

Dann war sie todt. Mit einer Lüge habe ich Abschied von ihr g e'
nommen, wie ich mit einer Lüge begann.

Ich will nicht in den Spiegel sehen, damit er mir die Scham auf
meinem Gesicht nicht zeigt.

Oder ist auch die verloren gegangen?

*

Jetzt habe ich rnich ganz erkannt. Ein neuer Zug wird kaum mehr
in mein Leben treten. Vielleicht der Geiz? Denn nun wo ich dem Ende
täglich näher komme, klammere ich mich an den Rest mciner Tage, und
fürchte um jede Minute die ausgegeben wird.

Ich will den Spiegel wieder fragen.

Die Neugierde lacht mich aus ihm an.

„Wer sich selbst genau kennte, müsste an sich selbst verzweifeln.
Ein gnädiges Geschick raubt uns Menschen das volle Bewusstsein unserer
Selbst in der Vergangenheit wie in der Zukunft.“

Eben las ich den Satz in einem Buche. Aber er ist Unwahrheit.
Gemeine Liige ist er: ich kenne mich selbst ganz genau. Ich kenne meine
^ergangenheit, soll mir die Zukunft verborgen bleiben?

Spiegel, rede!

Ich sehe in das Glas und sehe nur mich selbst, den ich nun
^enne, wie ein aufgeschlagenes Buch, das ich Zeile um Zeile durch-
gelesen habe.

Zuerst ging es mühsam und langsam, und doch ist mir nichts ver-
Schlossen geblieben, doch habe ich Runzel um Runzel, Furche um Furche,
E alte um Falte, Zug um Zug, Mal um Mal erkannt!

Spiegel rede!

Stundenlang sitze ich jetzt vor dem Spiegel und er schweigt. Stunden-
lang blicke ich hinein, er antwortet nicht.

*

Es ist zu dunkel im Zimmer. Licht, Licht! Nur dann kann das Bild
richtig zurückgestrahlt werden. Ich zünde Kerzen an. Zwei. Aber
nur der Schein blendet im Glase. Noch mehr Kerzen 5 . . . 6 . . .
8 . . . 10 . . . Es hilft nichts — nur die Zahl der spiegelnden Flammen
steigt . . .

Finsterniss. Alle habe ich ausgelöscht . . .

Mein Bild müsste leuchtend erscheinen . . .

Es ist so dunkel. Ich fürchte mich. Wovor? Vor mir selbst? Hm!
Hm! Ich kenne mich ja? Ganz genau mit alien Lastern und Gemeinheiten . . .
und dabei bin ich nur Durchschnitt . . . Ich bin nicht einer der bösesten . . .

hoho! Wie müssen dann erst die Anderen sein . . .

* *

Ich habe doch wieder Licht gemacht. Die Dunkelheit vermag ich
nicht zu ertragen. Mir ist es dann, als brennte ich selbst, denn in mir,
an mir ist für mich ja alles sonnenklar.
 
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