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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Alberti, Conrad: Wiesbadener Kurleben
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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [1]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0103

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MODERNE KUNST.

Wiesbaden, vom Neroberg gesehen.

Originalzeichnvng von F. Gehrke.

seinen spitzen Thürmen, seinen Kuppeln und Säulen-
bändern? Grüngoldig schlingt sich der fruchtbare
Kranz der Hügel, auf den Feldern schaukeln sich
die reifenden Kinder des Bodens, besonnen runden
sich die schimmernden Weinberge, und in der
äussersten Ferne senkt sich das Thal zur Bahn
des alten, glänzenden Vater Rhein hinab. Aus der früchtestrotzenden,
lachenden Landschaft herauf in unsere Höhe klingt das Rauschen der
Erinnerung. Zu unsern Füssen liegen die prächtigen Villen der Taunus-
strasse, weiss aus dem Grünen hervorschimmernd. Flier wohnten die
Könige von Schweden, Dänemark, Griechenland, hier spielte ein Akt aus
jenem Trauerspiel um den serbischen Königsthron, hier vertheidigte die
Ivönigin Natalie ihre heiligen Mutterrechte gegen die Eingriffe der Politik.
Weiter schweifen die Gedanken zurück in jene Zeit, da Wiesbaden das
Monaco Deutschlands war. Wohl war damals der Fremdenzufluss ein

stärkerer, der internationale Verkehr ein impo-
santerer — und doch ist das Wiesbaden der heutigen
Zeit, unberührt von dem Klange des Goldes in der
sinnlosen Jagd nach dem Glück, nicht zurückge-
blieben gegen jenes. Noch heute ist Wiesbaden
eins der deutschen Modebäder, aber än die Stelle
ungeduldig hastenden, rastlosen Erwerbes ist ruhige Entwicklung getreten,
an der Stelle jener zweifelhaften Koryphäen des grünen Tisches sehen
wir heute genesungsuchende Menschen, und harmlose Freude ist einge-
kehrt in die Säle, in denen vor fünfundzwanzig Jahren noch die Leiden-
schaften des Spiels tobten. Ruhe und Frieden athmet die entzückende
Landschaft zu unseren Füssen. Unvergesslicher Anblick, vollkommenes
Gemälde des Glückes, des göttlichen Segens, der menschlichen Arbeit,
der Aufrichtigkeit und Gesundung. Warm und fühlbar schlägt auch hier
der Puls Deutschlands, und Heil dem, der ihn fest und sicher fühlte!

Humoristischer Roman von Heinrich Vollrat Schumacher.

Erstes Capitel.

„Leo!“

Leo hörte nicht. Leo stand neben Bess, ihrer Lieblingskuh, hatte ihre
grimmigste Amtsmiene aufgesetzt und kanzelte Trine, das Melkmädchen, ab.

„Bess will sich nicht von Dir melken lassen, sagst Du? Bess ist wild?
Freilich, wenn Du sie kitzelst — da! Nun hat sie Dir richtig eins ver-
setzt. Warum bindest Du ihr auch den Schwanz nicht fest! Die Fliegen
stechen heute so wie so wie wahnsinnig. — Oh, oh Bess! Ich bin’s ja
Bess! Nein wirklich, Bess, wenn Du nicht artig bist, giebt’s zum Abendbrot
kein frisches, saftiges Grünfutter, sondern ganz gewöhnliche Schlempe! —
Na, siehst Du wohl, Bess? Warum nicht gleich so? So! So!“

Bess war ruhiger geworden unter Leo's streichelnder Hand. Ein be-
hagliches Stöhnen ausstossend haschte das schöne, schwarzweiss gefleckte
Thier mit der dicken Zunge schmeichelnd nach Leo’s Aermel. Leo aber
schob den günstigen Moment benutzend Trine das strotzende Euter zu.

Otti — seit dem zwanzigsten November vorigen Jahres Frau Amts-
richter Mertius — stand noch immer in der drückenden Julihitze vor der
geöffneten Thür des Kuhstalles auf Rochollshof und spähte prüfend in das
Halbdunkel vor ihr. Nein, es ging nicht; sie konnte sich mit ihrem guter
Kleide nicht in den Schmutz wagen. Es würde ruinirt sein. Aber unten

[Nachdruck verboten.]

am See wartete der Kutscher. Und schimpfte und fluchte vielleicht noch
immer. Seine rauhe Stimme, mit der er sein Geld verlangte, klang Otti
noch in den Ohren.

„Leo! Bitte, bitte! Leo!“

Diesmal hörte Leo. Mit einem Ruck fuhr sie herum und war über
Trine’s Kopf und drei, vier Melkeimer hinweg im nächsten Augenblicke
an der. Thür, an Otti’s Halse.

„Mädel! Otti! Frau Amtsrichter! Bist Du’s wirklich? Herrgott, wird
Mama sich freuen! — Na, na, erstick’ nur nicht gleich! Mia wird Dir das
Kleid schon wieder aufplätten. Mit Wonne! Ist ja ihre Specialität!“

Otti lächelte unwillkürlich, während ihr Blick über das sackartige, aus
grobem Nessel selbst angefertigte Kleid der Schwester streifte.

„Deine scheint’s noch immer nicht- zu sein!“ neckte sie. „Wahrhaftig,
wenn Du nicht ein so niedliches, feines Gesichtchen hättest, Fräulein
Leonore von Rocholl, könnte man Dich für eine alte Hexe aus einem recht
gruseligen Kindermärchen halten!“

Leo machte eine verächtliche Flandbewegung und hob einen Stroh-
halm auf, um mit demselben einen ihrer Zöpfe zuzubinden, dessen Band
sie verloren hatte.

„Bah! Flitter! Steige doch mal mit Deinem Paradekleid auf einen Gaul
 
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