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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Traeger, Albert: Zur Eröffnung des Parlaments-Gebäudes, [1], Beim Scheiden aus dem alten Heim
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Gurlitt, Cornelius: Zur Eröffnung des Parlaments-Gebäudes, [2], Des Reichshauses Baugeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0207

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MODERNE KUNST.

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es U^eichshauses Saugeschichtß-

Von Cornelius Gurlitt.

as Mittejalter hatte seine Baumeistersagen und die Neuzeit hat sie auch-
Wo an einem gothischen Dom zwei verschieden geartete Thürm e
sich befinden, weiss die ganze Stadt, wie es sich zugetragen hat, das^
man nicht beide über denselben Leisten schlug: einen Thurm baute d £l
Meister, den andern der Lehrling. Der schönere ist immer vom Lehrhng-
Und aus Eifersucht warf dann der Meister den Lehrling vom Thunn herab-
Der grosse Stein im Pflaster da unten deutet die Stelle an, wo der arm'-
Jüngling aufschlug. Dass auch im Mittelalter ein Thurn 1
nicht von einem Menschen allein ausgeführt wurde odet
dass man auch damals einen Lehrling nicht zum Leite 1
eines grossen Baues machte — das stört die Erzählung
und die Erzähler nicht. Und es ist ganz gut so. D lC
Wahrheit wird zwar von den Kunsthistorikern aus Archive 11
hervorgeklaubt, aber sie ist erschrecklich trocken und ebe 11
nur für Kunsthistoriker gut genug, besser ist’s, dass d ie
Dichtung ihr luftiges Gebilde um die alten Dome wirkh
dass die Märchen mit den Dohlen die Kreuzblumen urn'
kreisen. Das bringt den Bau dem kleinen Bewunderer da
unten auf dem Markte näher als wenn er erfährt, nach eine 1
Aktennotiz sei Meister Hans der Steinmetz damals, viet'
zehnhundert und so und soviel Hüttenmeister am Münstet
gewesen und er daher wahrscheinlich der Schöpfer des
Helmes sei.

Nicht ganz so freundlich sind die modernen Bausagen-
Haben Sie noch nicht von der Kirche gehört, in welchef
der Baumeister die Kanzel zu errichten vergass? Ich kenne
davon schon eine stattliche Anzahl. Oder gar von dein
grossen Schloss, in welchem man beim Beziehen fflk
Schrecken bemerkte, dass der Architect einen zwar kleinen,
aber wichtigen Ort anzulegen übersah? Oder das Theatei?
den Concertsaal, bei deren Eröffnung man erst beinerkte,
dass die Garderobe fehlte? In den alten Sagen ist dei'
Baumeister ein ringender, vorwärts strebender Künstler,
den es zur Verzweiflung bringt, sich in seinem Können
überholt zu sehen. In den neuen ist er ein Dummkopf-
Denn wer vier, fünf Jahre an einer Kirche schafft und die
Kanzel vergisst, das heisst, nicht daran denkt, wie sein Werk
einst seinem Zwecke dienen soll — das muss doch ein
rechter Troddel sein!

Wahr sind diese Vergesslichkeits-
geschichten genau im gleichen Maasse
wie die Eifersuchtserzählungen. Nur ist’s
kein erfreulicher Schleier, den sie übef
die Bauten breiten, es guckt vielmehr
eine Ueberhebung des „Publikums“ durch
solche Geschichten, welche recht in ärgeT'
licher Weise darthut, wie wenig dies
eigentlich vom Bauen versteht, wie wenig'
es weiss, wie ein Bauwerk zu Stande
kommt.

Nun wird nächstens das Reichshat’S
eröffnet werden. Um dies hat die Sag e
sich schon mehr bemüht, als ihm zuträg'
lich ist. Zu jedem fertig gewordenen
Stück, welches aus der Umrüstung hei'-
vorschaute, machten die Leute von Ge-
schmack ihre Anmerkung. Jede der
spärlichen Nachrichten, die in die Presse
kamen, bildeten den Nagel, an den mÜ
kritischen Kopfschütteln eine Fabel an-
gehängt wurde. Das Abrüsten fängt
natürlich von oben an. Wie die Krone

gerade keinen Durst hatten. Hier ging ein Einsamer in tiefem Brüten
gedankenschwer umher, wandelten Gruppen in ernsten und zwanglosen
Gesprächen auf und nieder, belehrte wohl auch und überzeugte ein
Minister einflussreiche oder schwankende Anhänger. Gewöhnlich aber sass
alles durch einander, vergnüglich plaudernd, und lachte über gute und
schlechte Witze, man hörte Geschichten zu, an denen auch gereifte und
gesetzte Männer, wenn sie gerade unter sich sind, sich noch zu ergötzen
pflegen. Plötzlich ein schrilles anhaltendes Klingeln an allen Ecken und
Enden, und mitten im Satz stiebt alles aus einander zur — Abstimmung.

So war es, und wie wird. es werden? Alles fängt wieder von vorn
an, und was der Hauptspass, die ältesten wie die jüngsten Parlamentarier,
jeder muss wieder eine Jungfernrede halten!

Im Lcsczimmer des Reiclistages.
 
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