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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Traeger, Albert: Zur Eröffnung des Parlaments-Gebäudes, [1], Beim Scheiden aus dem alten Heim
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0205

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Mit Originalzeichnungen
von E. Henseler und E. Thicl.

hn Sitzungssaal des Reichstages.
Originalzeichnung von E. Henseler.

^ ßsim 3 ch2idert aus dem alten Tjeim.

Von Albert Traeger.

,nd nun ist alles still — ausgeläutet hat die Glocke, die zum Leben
rief, die Blitze beschwor, auch manchen Todten beklagte, und deren
Klang nicht immer Frieden bedeutete; kein Beifallssturm und tosendes
Zischen, kein Ausbruch der Heiterkeit, kein zorniger Aufschrei mehr; leer,
alles öde und leer, kein nachdenklicher Schritt, kein eilender Fuss durch-
misst mehr den Wandelgang, kein Mann aus dem Volke, kein schmach-
tendes Augenpaar harrt mehr am Eingange des erlösenden Führers; leer
auch die Flaschen und Gläser, mancher Begeisterung Quelle, der Ermatteten
Stärkung, der Trost dem Augenblick der Entscheidung entgegen harrender
Ungeduld. Allüberall tiefer Schlaf, den keine Rede verursacht hat und
keine mehr stören wird. „Was wohl im Schlaf für Träume kommen
mögen?“ Vielleicht wüthet die Schlacht der unsichtbaren Geister fort,
steigen empor die Schatten der ungehaltenen Reden, drängen sich
herbei die verspäteten Gedanken, suchend irren die Vordersätze umher,
die niemals den Nachsatz gefunden, und zu gespenstischem Reigen ver-
schlingt sich alles, was abgestrichen und begraben worden. Nicht lange
währen wird der Spuk, ein schnelles Ende bereitet ihm die letzte Auf-
lösung,' der Abbruch. Ueber dreiundzwanzig Jahre hat der deutsche
Reichstag in der alten Porzellanmanufactur ausgehalten, war es doch nur
ein vorläufiges Unterkommen. Das Gebäude schien ungeduldiger, als er
selbst und bedrohte zuweilen die ehrwürdigen Häupter mit Einfällen, die

zur Eile mahnten. Ueberhaupt ward er nicht immer mit der dem Porzellan
gebührenden Behutsamkeit behandelt und hat sich auch mitunter etwas
zerbrechlich erwiesen, im Allgemeinen aber dem Herkommen der Oert-
lichkeit Rechnung gctragen und sich bemüht, als ansehnlicher und brauch-
barer Tafelaufsatz zu dienen. Jetzt hat er endlich dem Porzellan den
Rücken gekehrt, die Scherbenstätte verlassen und im Schatten der Sieges-
säule sein dauernd Heim bezogen, ist also gewissermaassen zur Stelle
seines Ursprungs zurückgekehrt. Da steht er, die Krönung des Jahrhunderte
langen Ringens eines Volkes, das aus der Zersplitterung zur Einheit strebte
und unter kraftvollen Führern nach Iangem blutigem Kampf die frohe
Hoffnung auf friedliche Entwickelung vor sich sieht. Möge ihm der Platz
abseits vom Lärm des Tages, vom stillen Grün des Thiergartens um-
schattet, eine gute Vorbedeutung sein! Ohne Kampf und Streit wird es
auch hier nicht abgehen, aber die Ennnerung an das Errungene wird
mildernd wirken auf die Personen und die Parteien.

Dreiundzwanzig Jahre, ein Menschenalter fast, von einem Abgeord-
neten- oder gar Ministeralter tiberhaupt nicht zu reden, sogar das Durch-
schnittsalter des Porzellans ist weit höher. Wie oft in dieser Zeit hat er
nicht die Gesichter und das Gesicht gewechselt, der deutsche Reichstag,
in wie viel Färbungen haben sich die Grundfarben abschattirt, welche
Fülle neuer Stich- und Losungsworte ist in heftiger stets entbrennenden
Kämpfen laut geworden, welche Fluth von Streitpunkten hat die alten
Unterschiede fast hinweggespült, das festzustellen, dürfte unmöglich sein,
mit Sicherheit aber lässt sich behaupten, dass drinnen weit mehr Haare
gelassen, als jemals hinein gebracht worden. Auch der Bundesrath, der

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