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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0119

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21

Humoristischer Roman von Heinrich Vollrat Schumacher.

[Fortsetzung. ]

Zweites Capitel.

ber das wird ja immer schlimmer, Brechtling!“ rief Frau Amalie von
Rocholl bestürzt, nachdem sie die Abrechnung durchgesehen hatte.
,,Junge Kohlrabi, Blumenkohl und Erdbeeren standen vorgestern um ein
Drittel höher, und reife Stachelbeeren gab’s überhaupt noch nicht. Und —
oh Winand, sieh’ nur! Krebse! Rein verschenkt! Krebse wie Hummern,
mit solchen Scheeren!“

Sie hielt ihre Hände ungefähr einen Meter weit auseinander. Herr
von Rocholl beachtete es nicht. Er stand am Fenster des Gutscomptoirs von
Templin und starrte unverwandt hinaus, als ginge ihn diese ganze Marktab-
rechnung nichts an. Oberinspector Brechtling zuckte bedauernd die Achseln.

,,Die Concurrenz, gnädige Frau, die leidige Concurrenz!“ sagte er mit
einer süssen Stimme. ,,Es war schon kein Markt mehr, sondern eine
Gemüseausstellung, zu Schleuderpreisen! Und die Redensarten, die mir
an den Kopf flogen! Unsere Eier wären wohl Spatzeneier? meinte Einer.
Unsere Prima-Tafelbutter Margarine, unsere Hühner pipskrank und unser
Gemüse stockig und faul?“

Frau Amalie setzte sich fassungslos auf einen Stuhl.

„Winand!“ stammelte sie. ,,Hast Du es gehört? Unsere Sachen, die
in der ganzen Gegend beriihmt sind, sollen nun mit einem Male — es ist
unmöglich!“

Herr von Rocholl drehte sich nicht um. Er trommelte mit den Fingern
gegen die Fensterscheiben. Oberinspector Brechtling hustete; dann lächelte
er sehr süss und sehr gekränkt.

„Verzeihung, gnädige Frau! Falls gnädige Frau anderer Meinung sein
sollten . . . es würde sich dann wohl empfehlen. einem Anderen den Ver-
kauf zu übertragen. Es wäre mir doch sehr unangenehm, wenn ich durch
meine Unkenntniss oder Ungeschicktheit -— hm! . . .“

Er räusperte sich sehr stark. Herr von Rocholl fuhr herum.

,,Wer hat denn davon gesprochen, lieber Brechtling!“ sagte er hastig
und ein wenig gereizt. „Sie als ehemaliger Kaufmann eignen sich für den
Handel, wie Keiner. Sie werden also den Wochenmarkt behalten. Oder
hast Du etwas dagegen, Amalie?“

Frau von Rocholl war bei dem scharfen Tone erschreckt zusammen-
gezuckt.

„Ich?“ beeilte sie sich zu erwidern. „Wie sollte ich? Ich hätte ja . .
ich würde . . wenn ich . . .“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste es nun seit beinahe
achtzehn Jahren nicht, was sie Winand sagen sollte, ohne diese seltsame
halb polternde, halb anklagende Gereiztheit bei ihm hervorzurufen. Und
so endete sie damit, dass sie sehr roth wurde und zu ihrem Gatten mit
bittender Schüchternheit aufblickte, die ihr trotz ihres bereits ein wenig
ergrauenden Haares und trotz der Sorgenzeichen auf Stirn und Wangen
jenen mädchenhaften Liebreiz verlieh, der vor achtzehn Jahren Winand's
Entzücken und Stolz gewesen war. Heute jedoch schien er keinen Sinn
mehr dafür zu haben; sein Gesicht war eher noch strenger und hagerer
als zuvor, und seine Augen blickten noch melancholischer.

„Na also!“ stiess er kurz heraus und ging zum Schreibtisch. „Zählen
Sie das Geld her, Brechtling!“

Und Oberinspector Brechtling zählte langsam in schnurgeraden Reihen
den Erlös des Markttages auf das Holzbrett, welches auf der grünen Tuch-
platte des Schreibtisches lag. Und Frau Amalien’s Lippen bewegten sich
lautlos. Sie rechnete. Denn der Ertrag des Gemüsegartens war ihr zur
Bestreitung des Haushaltes zugewiesen und sie dachte an die Tapete im
guten Zimmer auf Rochollshof, die vor achtzehn Jahren saftig grün ge-
wesen war und sich seitdem in ein fahles, schmutziges Braun vei'wandelt
hatte, von dem sich die blauen und rosa Flicken, mit welchen Frau Amalie
einige gar zu klaffende Risse verklebt hatte, doch ein wenig seltsam ab-
hoben. Würde es ihr möglich sein, jenes hüsche, zarte Blumenmuster,
das sie sich vor drei Jahren in einer Tapetenhandlung der Stadt ange-
sehen hatte, nunmehr zu erschwingen?

[Nachdruck verboten

„Achtundneunzig Mark und vierundzwanzig Pfennige!“ sagte Ober-
inspector Brechtling nach einer Weile. „Möchten Sie nachzählen, gnädige
Frau?“

Frau Amalie erröthete vor Freude. Es würde möglich sein! Sie würde
sich nun nicht mehr zu geniren brauchen, einen Besuch in das prachtvolle
gute Zimmer zu führen, in das die Sonne warm und hell hineinlächelte
und das Blumenmuster in ein wunderbares, glänzendes Licht setzte. Und
so lächelte auch Frau Amalie, triumphirend, und nickte freudestrahlend
und breitete, da ihr Portemonnaie für das viele Courantgeld zu klein
war, ihr Taschentuch aus, um die achtundneunzig Mark und vierund-
zwanzig Pfennige hineinzustreichen. Und sah erst auf, da sich eine fremde
Hand auf die ihre legte, Winand’s Hand.

„Erlaube!“ sagte er gepresst und düster. „Es thut mir leid, aber Du
kennst ja unsere Lage. Fünfundzwanzig Procent musst Du mir mindestens
abgeben!“

Frau Amalie wurde blass. Und auch das Blumenmuster verblasste.

„Aber das letzte Mal nahmst Du doch nur zwanzig Procent, Winand!“
wandte sie zaghaft ein.

Auf seiner Stirn erschien die bekannte tiefe Falte, die erste Vorbotin
eines nahenden Gewitters.

„Das letzte Mal? da war das Gemüse besser und erzielte deshalb
höhere Preise. Liefert also anständigere Waare! — Buchen Sie’s, lieber
Brechtling!“

„Für Templin oder Rochollshof?“ fragte Brechtling diensteifrig.

„Templin zahlt höhere Hypothekenzinsen! Also auf Templin!“

Er hatte die 25 Procent abgezählt und schob sie Jenem hin.

,,0h Winand“, wagte Frau Amalie noch einen bittenden Sturm.
„Glaubst Du wirklich, dass ich mit kaum fünfundsiebenzig Mark . . .“

Sie verstummte erschreckt. Er hatte stark auf den Tisch geschlagen,
und die blaue Ader an seiner rechten Schläfe, die zweite Gewitterbotin,
war plötzlich angeschwollen.

„Ich bedenke Alles!“ rief er. „Und ich weiss Alles! Ich bedenke,
dass wir bis an den Hals in Schulden sitzen, und ich weiss, dass wir weit
über unsere Verhältnisse leben. Sollen unsere Kinder später sagen, dass
wir nur für uns gelebt und an sie nicht gedacht haben? Wenn ich einmal
todt bin — und das kann mir im nächsten Augenblicke passiren . . .“

Wenn ich einmal todt bin! Es war der Donner, der am Horizont
grollte.

„Oh Winand“, stammelte Frau Amalie schluchzend, „sprich nicht so!
Ich . . wir Alle . . die grüne Tapete ist ja auch noch ganz gut!“

Er streifte mit einem seltsam scheuen Blick das ihm flehend zugeneigte,
sanfte, bekümmerte Gesicht und wandte sich ab.

„Bei der Hitze ist es überhaupt gesundheitsschädlich, so oft Fleisch
zu essen. Koche also mehr Eier- und Mehlspeisen. Sie sind ebenso
nahrhaft und bedeutend billiger!“

Frau Amalie erwiderte nichts. Was hätte sie auch erwidern sollen?
Winand wusste ja Alles, da er Alles selbst besorgte. Auch die Küchen-
zettel entwarf er. Nur einmal in den letzten vierzehn Tagen hatte es
Fleisch gegeben, Lungenhachee von dem Hammel, den der Dorfmetzger
für die Gutstagelöhner geschlachtet hatte. Aber Winand's Menu bekam
Allen augenscheinlich ausgezeichnet. Wurde Oberinspector Brechtling
z. B. nicht täglich dicker? Wii’klich, das Lungenhachee konnte ebenfalls
gestrichen werden!

Und so neigte Frau Amalie ergebungsvoll ihr Ilaupt und band das
Taschentuch ohne die 25 Procent zusammen, um es gleich darauf mit
jähenx Schreck wieder hinzulegen. Hinter der aus dem Comptoir in den
Park führenden Glasthür war ein jugendlicher Mädchenkopf erschienen
mit langen, kastanienbi'aunen Zöpfen, von denen das Ende des einen
zwischen zwei blanken Zahnreihen steckte. Und eine Hand hatte Fi'au
Amalie heftig gewinkt. Dann als Winand am Schreibtische eine Bewegung
machte, war Alles wieder verschwunden.

IX. 2. II.
 
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