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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0497

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Ißsitlin al$ Onnc0itfpPahf.

Als vor nunmehr bald vierundzwanzig Jahren das
^eue Reich gegründet und die deutsche Einheit her-
Sestellt war, da blickten manche Angstmeier sorgenvoll
auf das zur Kaiserstadt gewordene Berlin, das in un-
Seahnter Weise zu wachsen anfing, sich in jeder Hinsicht
reckte und streckte und sich bewusst zu werden begann.
^ass es über Nacht die Hauptstadt und der Vorort eines
Srossen einigen Staates geworden war, eines Staates,
der so unendlich viel mehr Mannigfaltigkeit umschloss
als das alte Preussen. Man dachte mit Gruseln an das
Srosse Paris, das die Intelligenz von ganz Frankreich
aufzusaugen und auszustrahlen scheint, und man fürchtete,
ßerlin könnte auch einst dahin kommen, dass es ganz

fallslustigen Menschen füllt. Es ,hat demgemäss eine
wilde Jagd nach Berliner Kritiken begonr.cn.. die yon
Jahr zu.Jahr grösser wird und weder Berlin, noch den
Sängern und Sängerinnen, den Violinisten, Cellisten,
Bratschisten, Flötisten, Pianisten oder wie die armen
Unglückswürmer, sonst heissen mögen, zum Segen ge-
wordeu is,t. Im vorigen Winter hatten wir hier ungefähr
700 Concerte, in diesem Jahr sind 800—900 angesagt.
Wer bürgt dafür, dass nicht im nächsten 1000 und im
übernächsten 1500 stattfinden werden.

Wirhaben je.tzt also an jedem Abend durchschnittlich
4 Concerte, wir werden bald noch mehr haben. Dass
dieses Uebermaass der Genüsse ein sterblicher Mensch
nicht Abend . für Abend ertragen kann, ohne an Leib
und Seele ernstlich Schaden zu nehmen, ist klar. Da

hundertunddreissig verschiedenen auswendig gespielten
Klavierwerken eine Uebersicht über die Geschichte der
Klavie'rlittferatur geben will, so ist das eine ganz ausser-
g.ewöhnliche Virtuosenleistung. Was wollen dagegen die
allgemein anerkannten Erfolge eines Pianisten wie Conrad
Ansorge, eines Geigenkünstlers wie Burmester sagen?!
Die Masse muss es bringen. Ivommt da ein zehn-
oder zwölfjähriger Knabe daher, componirt eine . „sinfo-
nische . Legende von König Boleslas dem Kühnen
und Bischof Stanislaus dem Heiligen“ für grosses Or-
chester und führt sie in der Singakademie auf. Wenn
das heute der Raoul Koczalski macht, werden wohl über
ein Kleines die echten patentirten Wunderkinder schon
in den Windeln ihre Ammen selbst componirte Wiegen-
lieder lehren müssen, damit die vielversprechenden Genies

Otto Pilz. Christbaums Ende.

Deutschland seine Meinung über Politik und Kunst als
rnaassgebend vorschreiben möchte. In der Poiitik wollte
man sich eine Centralisation am Ende noch gefallen
lassen. Die Kunst aber gedeiht um so besser, je freier
Und unabhängiger sie ist. Deshalb hatte man allen Re-
spect davor, der Berliner Geschmack könnte einmal der
allein selig machende in Deutschland werden. Die ängst-
lichen Gemüther übersahen, dass Berlin schon deshalb
nicht eine gleiche Stellung einnehmen kann, weil die
verschiedenen grossen und kleinen Residenzen der
Bundesstaaten ebenso wie schliesslich auch Wien ihm
ein natürliches Gegengewicht bilden. In der That hat
denn auch Berlin in den vergangenen 24 Jahren in keiner
Kunst eine vorherrschende Stellung zu erringen vermocht.

In einer Hinsicht aber ist es wirklich tonangebend
geworden: in Bezug auf Concerte. Die Berliner Concert-
kritik gilt heute schon allgemein als die einzig wahre.
Eine lobende Berliner Besprechung ist der Freibrief, der
dcm glücklichen Besitzer die Thüren der Concertsäle in
der Provinz ebenso öffnet wie im goldreichen Amerika,
Und was mehr ist, die Säle auch mit gabenfrohen, bei-

aber die Berliner Zeitungen, aucli die sog. grossen, sich
nur eines Musikreferenten erfreuen, so kann man sich
ungefähr vorstellen, was aus der so hoch geschätzten
und heiss ersehnten Berliner Musikkritik allmählich ge-
worden ist. Das grosse Publikum hat gegenüber der musi-
kalischen Sturmfluth schon ganz entschieden und rtick-
sichtslos Stellung genommen. Es verschanzt sich hinter
die Sandsäcke der Passivität und spielt einfach nicht mehr
mit. Es giebt in Berlin eine Unzahl sonst sehr liebens-
würdiger Frauen und durchaus erträglicher Männer, die
es als schwere Kränkung auffassen und höchst un-
gemüthlich werden, wenn man ihnen ein Freibillet zu
einem Concert mit der versehämten Bitte um persön-
liches Erscheinen anzubieten wagt.

Da heisst es denn, auf alle Weise von sich reden
machen, um der erdrückenden Concurrenz doch einen
kleinen Vorsprung abzugewinnen. Es wird die Reclame-
trommel gerührt, es werden die technischen Fähigkeiten
in einer Weise gepflegt und entwickelt, dass Kunst zum
Virtuosenthum wird. Wenn Frau Marx-Goldschmidt 8
Klavierabende arrangirt, in denen sie mit 130, sage ein-

im Wohlklang ihrer eigenen Geistesthaten höchstselbst
eingelullt werden.

Erfreulich ist es. dass bei dem grossen Virtuosen-
thum das sich in der Musik breit macht und das nur
allzu geeignet ist, einem künstlerisch nur oberfläch-
lich geschulten Publikum den Geschmack zu ver-
bilden, sich doch in Berlin eine musikverständige Ge-
nteinde zusammen gefunden hat. So hält es schwer
ein Billet iür die Kammermusik-Abende der Herren
Joachim, de Ahna, Ilaussmann und Wirth zu bekommen.
Den vier ausgezeichneten Künstlern ist neuerdings, ohne
dass es sich seiner Leistungen zu schämen hätte, das
FrankfurterQuartett Heermann, Bassermann, Naret-Konig.
Becker an die Seite getreten. Die Philharmonischen
Concerte erfreuen sich eines regen Besuchs. Ausver-
kauft aber ist jedesmal das Königliche Opernhaus, wenn
ein Sinfonieabend der Königlichen Capelle unter Wein-
gartner's Direction angesetzt ist. Der rege Antheil, den
das Publikum an diesen Concerten nimmt, ist ebenso
ehrenvoll für die Künstler, wie fiir die Hörer selbst.

Dr. Gustav Klitscher.

IX. W.-No. B. 1.
 
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