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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Meyer, Wilhelm: Marzipan: Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0231

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140

MODERNE KUNST.

Es wurde Abend, und Xaver ging durch die Strassen. Er kam wieder
an die Spreebrücke, auf der er schon vor Monaten gestanden hatte, beugte
sich über das Geländer und sah in das dunkle Wasser. Er war sterbens-
müde, sein Kopf ganz leer und das Leben bodenlos fade. Er dachte
darüber nach, was der Conditor ihm gesagt hatte: „in den Freistunden
wieder Thon und Meissel zur Hand nehmen.“

„Das ist nun zu spät,“ dachte er, „die Hand ist schmutzig geworden,
eine Zuckerhand, eine schleckerige Hand, eine Marzipanhand. Und selbst
wenn das gleichgültig wäre, man könnte ja doch nichts mehr schaffen.
Man kann nicht mehr nachdenken, es ist aus. Man ist ein Zwerg
geworden.

Er sah über das Geländer und dachte, ob es nicht gut wäre, das
Ganze zu enden. Aber plötzlich lachte er still vor sich hin: „Lächerlich!
ein Marzipan-Conditor, der sich tödten will!“

Er hatte zwei Thaler in der Tasche und trank die Nacht hindurch in
allen Kneipen herum.

Einmal, ein Jahr etwa rnochte vorbei sein, kam ein junges, glückliches
Paar und bestellte sich einen ganz ausserordentlichen Hochzeitskuchen.
Xaver wurde als Sachverständiger citirt, und da rief der Herr laut auf:
„Xaver! Zum Kuckuk, Du?!“

Xaver wurde sehr blass, aber Carl Heinrich schüttelte ihm die Hände
und war ausser sich.

„Du immer noch hier!? Das ist ja unerhört! Aber das soll ein Ende
nehmen! Ich sorge für Dich! Morgen schon!“

Aber zwei Tage darauf war Hochzeit, und dann ging es nach Italien
und von Italien nach Griechenland, und in solchem Glück hat Niemand
Zeit an Andere zu denken.

Und als wieder ein Jahr später Carl Heinrich heim gekonimen war
und über die Friedrichstrasse schlenderte und sich in guter Laune die
Läden besah, kam er auch an Laportes Laden und da fuhr es ihm plötz-
lich durch den Sinn: „Sackerment der Xaver! Wie konnte ich das ver-
gessen?! Ob er noch da ist?!

Nein es ist unmöglich, rein unmöglich.“

Er wollte hinein gehen und nachfragen, aber er schämte sich

„Er ist ja auch nicht mehr da,“ sagte er zu sich und ging trübsinWg
weiter, bis er dann zwei Bekannte traf mit denen er eine Flasche We in
trank und wieder lustig wurde.

Aber Xaver sass immer noch da.

Es war schon ganz gut, dass Carl Heinrich nicht hinein ging. Erstens
hätte er sich sehr erschreckt über den Anblick des einstigen Freundes
und zweitens hätte er ihm nun doch nicht mehr helfen können. Denn
dieses zweite Jahr hatte Xaver so ziemlich den Rest gegeben.

Zunächst kam er in dieser Zeit auf einige ganz bizarre Ideen. E 1
wollte griechische Göttinnen auf die Torten setzen und hatte die AbsicW
Frau Jenny Laporte als Modell zu benutzen. Sie war ausser sich unJ
kam thränenüberströmt zu ihrem Gatten. Paul stellte seinem Bildhauei
daraufhin zur Rede, aber Xaver antwortete lauter dummes Zeug und W al
erst nach einigen Tagen zu der Ueberzeugung zu bringen, dass Frau
Jenny sich zum Modell nicht eigne.

Als die Weltausstellung in Chicago heran kam, hatte Xaver die alle r'
merkwürdigste Idee. Er wollte Paul beschwatzen, eine Riesenstatue aus
Marzipan dort auszustellen, eine Venus Kalypygos, dreissig Meter hoch-
„Er ist halt a bissel verrückt“, sagte Paul zu seiner Frau, „denn zunächst
giebt es so viel Marzipan auf der ganzen Welt nicht, und dann — iuau
muss sich das überhaupt vorstellen.“

Allmählich ging es mit Xavers Marzipanfigürchen bergab. Seinc
Phantasie war eigetrocknet und er machte immer nur denselben kleinen
Amor: ein ledernes langweiliges Männchen. Darunter litt natürlich d a&
Geschäftsrenommee, und die Hochzeitstorten und Figurenkuchen wurden
unmodern. Paul dachte oft daran, Xaver abzuschaffen, aber er hatte ein
gutes Herz und mochte ihn nicht auf die Strasse setzen. Schliesslich g a^
es auch immer Allerlei zu thun und Xaver war ein billiger Kostgängen
In jenem Jahre kamen zu Weihnachten die Marzipan-Schweinchen aufr
die sehr niedlich aussehen und nach Gewicht verkauft werden. Die wurden
nun Xaver’s Specialität, und sie sind es bis zum heutigen Tage geblieben-
Bisweilen aus langer Weile dreht er an ihnen herum und giebt ihnen
allerlei närrische Gesichter. Dann lacht die Ladenmamsell, und Xaver, de r
sonst nie im Leben den Mund verzog, macht ihr das nach und lächelt auch-

nsere

-A.braham a Santa Clarsf sagt in einer seiner Kapuziner-Predigten: „So sind
ja in den Karten vier Säu, Eichelsau, Schellensau, Herzsau, Grassau, und weil
die Säue mehr gelten als ein König, so ist das ja ein säuisch Spiel“. Wer
mehrere Ass oder Säue in seinem Spiel hat, der kann die anderen Karten
stechen, das heisst: er hat Glück. Die Karten aber mischt Frau Fortuna, und
so ist es denn eine leicht verständliche Symbolik, wenn A. Schwarz uns die
„Moderne Glücksgöttin“ als ein verlockend Weib darstellt, in dessen Hand all
die Leitseile zusammenlaufen, an denen sie die ihren Lieblingen zugedachten
Schweinchen lenkt. Frau Fortuna ist eben ein Weib und schaltet nach Laune
und Neigung. Ja, es soll ihr nach beglaubigten Nachrichten besonderes Ver-
gnügen bereiten, so eine Art ausgleichender Gerechtigkeit zu üben und den von
der Natur Vernachlässigten, den Enterbten des Geistes ihre Schweinchen zu-
zutreiben. Es ist ein eigen Ding um das Glück, wer es hat, der hat’s, bisweilen
ohn’ all Verdienst und Würdigkeit, und dem, der’s nicht hat, dem bleibt immer
noch die Hoffnung auf der Göttin weiblich wandelbare Laune.

Es ist schon gar viel gestritten worden um des Glückes Wesen und Möglich-
keit. Richtig verstanden haben wohl Diejenigen Recht, die es nur in des
Individuums eigenem Innern gesucht wissen wollen. Es liegt mehr in der Vor-
stellung, als in den Aussendingen, und schliesslich ist’s nicht mehr, als ein
Traumglück, das schon in seiner Verwirklichung den Keim der Zerstörung birgt.
„Ein Liebestraum“ ist für die Empfindung gleichwerthig mit der Liebeswirklich-
keit, ja er ist ihr vorzuziehen, denn sein Zerrinnen erweckt nicht die Vorstellung
des unwiederbringlich verlorenen Besitzes. Die Schöne, die George Hare mit
offenen Augen träumen lässt von Liebeslust und Wonne, empfindet voll den
Triumph ihrer Reize. Aus ihrem momentanen Fühlen ist der Gedanke der Ver-
gänglichkeit der Schönheit ausgeschieden. Ihre Einbildungskraft spiegelt ihr ein
Glück vor, wie es das Leben niemals zu bieten vermag, ein Traumglück,
das mit dem Erwachen schwindet, ohne eine schmerzliche Erinnerung zu
hinterlassen.

Ob sich das über die ganze Menschheit vertheilte Glücksquantum jemals
vermehrt oder vermindert? Die Lustempfindung ist durch den Grad der
Empfänglichkeit beschränkt, der sicher keiner grossen Wandelung fähig ist. Die

ilder.

Reizmittel wechseln mit den Formen des Genusses, das Lustresultat bleibt
ungefähr dasselbe. Das Sprüchwort „Wie die Aiten sungen, so zwitschern di e
Jungen“ gilt nicht nur für die verschiedenen Lebensstufen, es hat auch cultur-
geschichtliche Bedeutung. „Eine Wirthstafel zur Zeit unserer Grosseltern“, ' vie
sie A. Perez schildert, unterscheidet..sich von einer modernen Table d’Höt e
nur durch das Costüm. Statt des Eisenbahnzuges hält draussen die schwer-
fällige Postkalesche, drinnen aber geniesst ganz so wie heute der Schlemntei"
seinen saftigen Braten, während sein Nachbar im Vollbewusstsein seiner Wohl'
erzogenheit, gleichgültig zierlich den Löffel zum Munde führend, mitleidig al1^
den gierigen Schwelger hinabblickt. Was dem Einen der Gaumen-, das ist def 11
Andern der Eitelkeitskitzel. Wer mag der Glücklichere sein?

Wahres Glück liegt vielleicht nur im freien, von dem Zweckbegriff l° s'
gelösten Spiel aller Kräfte, im zwanglosen Aufgebot des gesammten Könneris*
in der Uebung der Kunst. Es giebt Meisterwerke, an denen die Kritik heruiU'
deutelt, weil sie nicht weiss, woher ihr festliches, göttlich sorgloses Prange 11
stammt. Meister Tizian feiert seinen höchsten Triumph in der Darstellung eine s
schönen üppigen Weibes, das man gemeinhin als seine Tochter Lavinia bezeichnet-
Er hat sie mehrfach gemalt, bald ein Schmuckkästchen, bald einen Fruchtkorb
in den erhobenen Armen tragend, aber immer geht von ihrem Bilde jenes göB'
liche, vom Irdischen losgelöste Strahlen aus. War sie wirklich seine Tochter-
Auch Ernst Klimt lässt das Räthsel in seiner Bildgruppe „Tizian und Lavim a
ungelöst. Ob Tochter oder Geliebte, jedenfalls war die Schönheit gerade dieser
Weibes für den Meister die ewige Quelle glücklicher Schaffensfreude, aus d eI"
sonnig prangende Kunstwerke geboren werden.

Ueber der Menschheit Lust und Leid, über ihr Dulden und Schaffen strel
gleichgültig die Hand der Natur dahin, ihre Spuren verwischend. Die Pharaone 11
glaubten ihr Wirken zu verewigen durch mächtig aufragende Pyramiden un
schweigsame Riesensphinxe, aber die Denkmale verwehen im Wüstensande, un
um die verwitternden Steine streicht das Löwenpaar, gierig aufschauend zu den 1
Geier, dessen Kreisen lohnende Beute verheisst. „Eine Nacht in der Wüste >
wie sie G. Wertheimer malt, predigt in ihrer mondbestrahlten Einsarnk ell:
die Lehie von der Eitelkeit aller Dinge. Vanitas Vanitatum Vanitas!

ift

i-
 
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