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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Londoner Verkehrsleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0436

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Fährt noch Jemand mit?
Original-Zeichnune: von O. Marcus.

oadoner ^erkehrslebst].

lilljer Blick von Ludgate Hill an den gcwaltigen Massen der St. Pauli-
Kirche vorüber nach Ost und West, ist von überwältigender Gross-
artigkeit. Durch den Viaduct der Eisenbahnverbindung zwischen Ludgate-
l,üd Holborn-Station in neuerer Zeit beeinträchtigt, bietet er doch noch
^eute die vollendetste Anschauung des Verkehrslebcns der Millionenstadt.

sich östlich hinziehende Cannon-Street erhält im Wesentlichen ihren
^-harakter durch ihre grossen Waarenhäuser und durch die hier mün-
^ eüden Eisenbahnlinien. Der Kaufmann, der auf der Districts-Bahnstation
arigekommen, im Sturmschritt seinen Omnibus zu erreichen sucht, denkt

nicht mehr daran, dass hier einst in einem relativ stillen Winkel
die Gilde der Lichtzieher gehaust, nach der der ganze Bezirk
Candlewick genannt wurde. Und der bescheidene Kerzenfabrikant von
anno dazumal würde den für wahnsinnig erklärt haben, der ihm gesagt
hätte, dass die South Eastern Company 200 Jahre später von hier aus den
Londoner an einem und demselben Tage nach Paris befördern würde.

Ist Cannon Street vorwiegend der Tummelplatz des Kaufmannes, so
berühren sich auf der langgestreckten Linie des Strandes Vergnügungs-
und Geschäftswelt. Am Strand liegt die Mehrzahl der grösseren Theater:
Lyceum, Savoy, Opera Comique, Terry's, Strand, Gaiety, Adelphi, Vaude-
ville; Old Drury, Covent Garden und Toole’s befinden sich in unmittel-
barer Nähe. Wer gegen die Londoner Sitte nach der Vorstellung noch
ein Restaurant aufsuchen will, kann sich bei Gatti und Romano alle
Delicatessen der Saison auftragen lassen. Als Centrum für das Zeitungs-
wesen findet der Strand nur noch in Fleet Street einen Rivalen. Als
Knotenpunkt des Buchhandels erweist sich die Gegend schon dadurch
allein, dass hier die Firma Smith & Son ihx-e Bureaus hat, von denen aus
alle drei Königreiche mit geistiger Nahrung versorgt werden.

Was in London an Reisenden ankommt, muss den Strand passiren.
Selbst die Passagiere der Penny-Dampfboote, die bis in den späten Abend
hinein die Themse befahren, machen den Strand zu einem Sammelpunkt
aller derer, die nach des Tages Last und Hitze Erholung suchen. So ist
und bleibt der Strand der Culminationspunkt des Londoner Verkehrslebens,
mit dem selbst die nächste Umgebung von Mansion House nicht zu ver-
gleichen ist. Hier drängen sich Geschäftsmann und Pflastertreter, Schau-
spieler und Geistliche, Modedamen und Blumenmädchen, Soldaten und
Diener, fashionable Kutscher und Cabmen an einander vorüber, stumm
und gleichgültig, die Gesammtbevölkerung der Grossstadt repräsentirend.

Der Strand und Oxford Street sind die beiden gewaltigen Pulsadern,
durch die das Lebensblut der Metropolis in rasendem Tempo dahin-
rauscht. Die dazwischen liegenden Viertel sind von einem System enger
Canäle durchzogen, durch die der Verkehr in langsamerem Tempo hin-
durchsickert. In diesen Gassen und Gässchen entwickelt sich ein eigen-
artiges Stillleben, das in seiner Bethätigung doöh wieder von der Nähe
des Strandes abhängig ist. So weiss der Strassen-Musikant, besonders
der Drehorgelspieler, sehr wohl, dass er am Strand selbst nicht geduldet
werden würde. Aber er findet seinen Hörerkreis am leichtesten, wenn er
sich in der unmittelbaren Nachbarschaft, „so um die Ecke herum“ aufhält.
Da bietet sich ihm eine nicht zu unterschätzende Helfershelferin in der
„Strassentänzerin“. Er hütet sich wohl, die nicht eben fashionable ge-
kleideten Damen zu vertreiben, die um ihn herumwirbeln nach dem Tacte
des neuesten Gassenhauers. Der Fremde fragt sich erstaunt, wo diese
halbwüchsigen Mädchen mit ihren cancanirenden Bewegungen her kommen.
Von einem ltalienischen oder französischen Maitre haben sie sicher keinen
Unterricht erhalten. Aber vielleicht wird er Gelegenheit haben, sie um
die Weihnachtszeit herum in dem Chor irgend einer Pantomime in dem
Drury Lane-Theater zu bewundern.

IX. 23. I.
 
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