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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Londoner Verkehrsleben
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35°

MODERNE KUNST.

Der Strand zwischen den Law Courts
und Charing Cross ist die Feststrasse der
Londoner. Wie viel Aufzüge mögen da
stattgefunden haben von der Zeit an, als
Königin Elisabeth nach der St. Pauls-
Kathedrale zog zum Dankgottesdienst für
die Vernichtung der spanischen Armada,
bis zum Leichenbegängniss des Herzogs
von Wellington im Jahre 1852. Literatur
und Kunst haben sich am Strand von jeher
ein Rendezvous gegeben. Hier wurde Lord
Bacon geboren, Ben Jonson ging in North-
umberland Street zur Schule, und Garrick wohnte im Adelphi-1 heater.

Aus kleinen Anfängen heraus hat sich der Strand entwickelt. Ursprüng-
lich ein Fussweg, der über die am Nordufer. der Themse hingelagerten
Sümpfe führte, änderte sich sein Charakter mit der Begründung der West-
minster-Abtei und mit der Erbauung einer Königlichen Residenz. An der
Südseite des Strandes und in der nächsten Umgebung erstand nach und
nach eine Reihe glänzender Paläste: Essex-, Somerset-, York- und
Northumberland - House. Die Nordseite ist die bei Weitem modernere,
hier liegen, wie oben erwähnt, die Theater und die Redactionen der
grossen Londoner Zeitungen. Heute genügt der Strand nicht mehr den
Anforderungen des Verkehrs. Während man in der City überall für Ver-
breiterung der Strassen zu sorgen beginnt, bleibt am Strand so ziemlich
alles beim Alten. So ist es ein geradezu unbegreiflicher Missstand, dass
es zwischen dem Strand und Oxford Street nicht eine einzige directe Ver-
bindung giebt. Man gelangt nach der nördlichen Verkehrsader nur durch
ein Labyrinth von Gässchen, deren Passiren bei Tage unbequem, bei Nacht
geradezu lebensgefährlich ist.

Eine eigenartige Ergänzung des offen zu Tage tretenden Verkehrs-
lebens in London bildet das durch die Metropolitan und Suburban Railways
gebildete Eisenbahnnetz, das die Millionenstadt mit seinem zum Theil unter-
irdischen Linien umspannt und durchzieht. Sie sind in diesen Artikeln
schon öfter erwähnt, bieten aber immer neuen Stoff zur Beobachtung. Die
im Volksmunde als „Rattenbahn“ bezeichnete „Unterirdische“ wurde mit
einem Actiencapital von 200 000 Pfund begründet, ging ursprünglich von
Paddington nach Farringdon Street, kostete in Wirklichkeit 1 300 000 Pfund
und beförderte schon im ersten Jahre ihres Bestehens 9'/* Millionen
Passagiere. Heute umfassen die Linien die ganze Stadt und stehen mit
dem gesammten, nach London führenden Bahnnetz in Verbindung. Die
Metropolitan Railway Company wird im Durchschnitt jährlich von 81 Mil-
lionen Menschen benutzt. Auf der Strecke von Farringdon bis Moorgate
Street liegen vier Geleise nebeneinander, auf denen an jedem Wochentage
etwa 1450 Züge verkehren. Die Wagen sind bequem und wohl erleuchtet.
Die Maschinen arbeiten mit Rauch verzehrenden Apparaten, und doch ist
selbst der kurze Aufenthalt in den Coupe s kein besonders angenehmer.
Aber der Eingeborene weiss seine „Unterirdische“ zu schätzen. Er steigt

Abend auf der Themse.
Originalzeichnung von O. Marcus.

von dem an der Strasse gelegenen Stationsgebäude aus die Treppe hinabr
lässt das vorher gelöste Billet vom Schaffner coupiren und vertieft sicff
sobald er seinen durch eine Aufschrift an der Locomotive bezeichnetei 1
Zug gefunden, in seine Zeitung. Am Ziele angelangt, verlässt er d ie
Plattform durch den mit „way out“ kenntlich gemachten Ausgang, und
taucht spurlos in dem Verkehrstrubel der Weltstadt unter, um geg etl
Abend auf demselben Wege in sein im Westen belegenes Haus zurück'
zukehren. Um diese Zeit beleben sich die Strassen noch einmal. D ie
darauf eintretende Verkehrspause wird dann durch das in die Theatef
strömende Publikum unterbrochen. Nach Schluss der Vorstellungen vef'
sinkt London früher als andere Grossstädte in die Nachtruhe. Selbst de 1
Spätabend sieht nur noch eine mässige Belebung der Fahrstrasse auf def
Themse, über deren dunkle Fluthen vereinzelte, von Ausflügen heimkehrend e
Vergnügungsboote dahingleiten.

London ist keine Vergnügungsstadt, sondern ein Geschäfts-CentrunP
in dem der ganze Welthandel der vereinigten Königreiche und Colonie el1
zusammenströmt. London ist auch keine schöne Stadt. Der Fremde b e'
wundert es, ohne es zu lieben. Dem Engländer aber ist es noch W elt
mehr, wie Paris dem Franzosen, das Herz des Vaterlandes. Selbst def
schlichteste Provinziale geht mindestens einmal im Jahre „to Town“. £ r
besucht die Theater, macht seine Einkäufe und pflegt seine gesellig eir
Beziehungen. Das ist die sogenannte Season in der London sein F est'
kleid anlegt, ohne darum an geschäftlichen Allüren einzubüssen. Da sS
diese Zeit in das Frühjahr und in den Anfang des Sommers fällt, häng 1
mit den sportlichen Neigungen des Engländers und mit dem verhältnis 5'
mässig milden Winter zusammen. Während der Season sind die Höt<d s
überfüllt, in den Kaufläden drängen sich die Kunden, die Theater mach e11
glänzende Geschäfte. Der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Getrieh eS
aber wird Hyde Park mit seinen Rasenflächen und breiten Alleen.
strömt alles zusammen, was im Stande ist, sich Wagen oder Reitpt eic^
zu halten. Besonders zwischen zwölf und zwei Uhr Mittags saiW 11^ 1
sich hier die ganze „Gesellschaft“, Grüsse austauschend, coquettire 11
und angestaunt von der Menge, die trotz alles Freiheitsbewusstseins
Ehre zu schätzen weiss, einen wirklichen Lord mit dem Aermel gesti e1^
zu haben.
 
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