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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Mann, Heinrich: Der Löwe
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0259

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ö w e.

Von H. Mann.

on dem Gutshofe meines Vaters, der ein gutes Stück von
der Küste fort hinter den Dünen lag, erstreckte sich das
Dorf inmitten von Aeckern und Wiesen in einer einzigen
langen Strasse bis an den Kirchplatz, der von Kirche,
Gendarmerie und den Wirthschaftsgebäuden des Gross-
bauern Prahl abgeschlossen wurde. Ich trieb mich, wenn ich in den Sommer-
ferien zu Hause war, viel im Dorf umher, besonders zur Zeit des Marktes,
der alljährlich in diese Wochen fiel und nicht nur bei uns, sondern im
weiten Umkreise Alles, was Bauer und Händler hiess, auf die Beine brachte.
Ein unabsehbarer Zug von Landbewohnern und Vieh drängte dann von
den Feldern durch den Lindengang bei der Kirche auf den Platz und
quoll zur Gasse herein, so dicht, dass er die beiden niedrigen Häuser-
reihen noch weiter auseinderschieben zu wollen schien, als sie schon
standen.

Ausser den Gauklern und Tausendkünstlern, die tagsüber einen Kreis
von Bewunderern um sich sammelten, war für den Abend meist eines
der vielen herumziehenden Theater da, die es damals gab. Diese Wander-
truppen hatten in jener Zeit häufig noch ein eigenes, altmodisch-romantisches
Gepräge, das ihnen heute in dem Maasse wie sich die Verkehrs-
bedingungen erleichtert haben, gründlich verloren gegangen ist. Es fanden
sich noch Gesellschaften von einer Zusammensetzung und Art, die an die
unter Leitung Wilhelm Meister’s stehende erinnerten und höhere, sozu-
sagen künstlerische Ansprüche stellten, die auf das komischste mit den
armseligen Bedingungen, unter denen sie auftraten, zusammenstiessen.
Nicht dass die Truppe des Jahres, von der ich rede, so ausgesehen hätte; es
befand sich indess ein Mitglied dabei, das solche Erinnerungen hervorrief.

Es war ein junges oder nicht mehr ganz junges Mädchen, jedenfalls
aber eine so seltsam unb'ewusst gebliebene Schauspielerin, wie sie uns
heutzutage gleichfalls nicht mehr möglich dünkt. Es war vielleicht jener
Typus der unverstandenen, auch von sich selbst unverstandenen Tragödin,
wie er in Paul Heyse’s „Kreisrichter“ erscheint. Ein Mädchen, das ohne
Liebe für die Bühne, nur durch irgendwelche Gewohnheitsbande, etwa
als Theaterkind, dort festgehalten wird, das alle Instinkte ihrer Kunst hat,
die aber in einem trägen, todten Spiel begraben liegen und erst mit dem
Temperament erwachen, das durch eine grosse Leidenschaft aufgerüttelt
wird. Die grosse Frieda, wie sie genannt wurde, war so hoffnungslos
den Untergründen der Kunst verfallen, dass sie damals sogar als Thier-
bändigerin auftrat. Zu der Gesellschaft gehörte auch eine Menagerie, vor
deren Eingang, hinter der Kirche draussen auf freiem Felde, der Theater-
director, der hier als starker Mann fungirte, mit gewaltigen Paukenschlägen
zum Besuche einlud. Ausser einer matten Boa und ein paar gelangweilten
Panthern gab es hinter dem Zeltvorhange in den hölzernen Käfigen auch
einen wirklichen Seehund, der den Küstenbewohnern garnichts sagte, und
einen Löwen, der dagegen ihr ganzes Interesse in Anspruch nahm.

Das gefährliche Aussehen des Thieres ward ihm durch eine mächtig
breite Brust verliehen, über die eine zottige Mähne herabfiel. Dagegen
hatte der Kopf bei aller Wildheit etwas Abgehärmtes, die Flanken lagen
kläglich schmal und eingesunken zwischen den Rippen, die wie die eines
Droschkengauls hervorstanden. Sein Aeusseres deutete auf die Art der
Zähmung hin, der er unterworfen war: man hatte ihn offenbar durch an-
haltendes Fasten an einen Zustand gewöhnt, wo der Hunger nicht mehr
als Wildheit und Blutgier, sondern als winselnde Unterwürfigkeit auftrat.
Er musste, wenn die Bändigerin zu ihm in den Käfig trat, ganz genau
wissen, dass er nur, falls er sich während der Vorstellung tadellos auf-
geführt, hinterher seine Fleischration erhalten werde. Wie aber benutzte
sie diesen verzweifelten Zustand! Sie hatte nicht die vorsichtigen, stets
auf einen plötzlichen Rückzug gefassten Bewegungen des Wärters im
Verkehr mit der Bestie. Sie fasste ihn ohne Rücksicht an, schob ihn aus
dem Wege, neckte und schlug ihn; oder sie nahm seinen Kopf in ihren
Arm, drückte ihn gegen ihre Brust und küsste ihn, während ihre freie
Hand seine Mähne kraute. Sie ging mit ihm als Kraftweib mit einem

Schwächeren um, wahrscheinlich in der Weise, wie sie mit einem Man |U
umgegangen wäre. Die Bauern fühlten etwas davon, wenn sie sagten-

— Hei is ganz weg in sei.

— Sei tähmt em mit de Oogen, bemerkte ein Anderer.

Es war richtig, dass sie die Augen keinen Augenblick von ihm h eS '

Sie hatte Augen, in denen wie unter Schleiern, eine tiefe Grausamk elt
und zugleich ein starrer Schrecken vor dieser Grausamkeit und vor ü 11
selbst schlummerte. Es war, halb versteckt, in ihren Augen vielleicht alh’-
das ausgedrückt, was sie selbst nicht wusste.

Das Fremdartige in diesem strengen dunklen Wesen erhielt für uns ert
behäbigen blonden Bauern umsomehr Fascinirendes dadurch, dass ih ,L
Gestalt das allgemeine Ideal all' dieser Leute verkörperte, mit ihr e’’
starken Gliedmaassen, weit ausladenden Hüften, dem kräftig gewölbt el1
Nacken und der grossen Brust. Sie war, was sie Alle ein schönes Mä<h
chen nannten.

Der Eindruck, den sie auf diese Leute machte, trat am deutlichst e!l
hervor, wenn sie spielte. Ihr Spiel war ruhig und im Grunde vollstän'M
leidenschaftslos; aber eine lärmende Beweglichkeit wäre bei diesen nai v'
fatalistischen Zuschauern auf kein Verständniss gestossen. Dagegen b e"
griff Jedermann und war ergriffen, wenn ihr schwerer Körper, währen 1^
ihre klassisch geraden, gross gemeisselten Gesichtszüge unbewegt bliebe 11’
wie unter dem Druck einer unsichtbaren Schicksalshand ruckweise z u"
sammensank. Da entzündete sich eine Flamme in den gewöhnlich anS'
drucklosen blauen Augen der Männer. Die Fiisse begannen den Bod e!l
zu scharren, als setzte sie ein übermächtiger Instinkt in Bewegung.

Einer war dabei, der am wenigsten stille hielt und dabei seine £ r
regung am unliebsten merken liess, das war der Polizei-Sergeant Matthiess eI1’
Dieser war ein grosser Teufel von einigen dreissig Jahren, mit ungeschickt eU
Gliedmaassen, einem Ansatz zum Sehmeerbauch und einer widerspänstig el1
rothblonden Haarlocke, die immer wieder unter dem Helm hervor auf d ,L
ewig feucht glühende Stirn fiel, die gleich dem ganzen Gesicht die AnlaS 6
zur Apoplexie verrieth.

Des Sergeanten Lebensführung war seit der Ankunft der Schauspi el e!
auf den Kopf gestellt. Wenn er in der Frühe seinen Rundgang über Lai 1^
beendet, pflegte er sich sonst mit seinen Schreibereien bis Mittag 1,11
Wachthause einzuschliessen. Es war dies ein altes steinernes Häusch en'
das an das, an dieser Seite bis auf die Grundmauer herabfallende Kird 1'
dach angeklebt war und früher als Küsterwohnung gedient hatte: auf d el
Mauer neben der Thür war der alte Ortsheilige, ein gewappneter, d efl
Drachen mit seinem Fusstritt zermalmender Sanct Georg in grobem Rel ,el
abgebildet. Nun aber trat Matthiessen, die Feder hinter dem Ohr, äU e
zehn Minuten auf den verödeten, sonnenheissen Platz hinaus und späl ltL
unter dem Lindendach hindurch nach den beiden Zelten, Theater un<^
Menagerie aus, woher ein verworrenes Geräusch von Menschen- und Thi et
stimmen herüberklang. Regelmässig um 11 Uhr war sein innerer Kan'P 1
entschieden und er suchte den mit Zuschauern gefüllten, erstickend schwül efl
Zeltraum auf, wo er sich ganz hinten am Eingang autpflanzte, „um d 111
Sicherheitsdienst zu übernehmen“, wie er sagte, obwohl Jedermann tai 1^’
dass diesen auch sein Untergebener, der Polizeidiener Knoop, hätte h l
sorgen können. Um einen halben Kopf über alle Welt hinwegblick et1^’
beobachtete er still und unausgesetzt den Löwenkäfig, in dem die gt° sSl
Frieda mit dem Löwen in ihrer nachlässigen Weise bald scherzte bah
zankte. Wenn er einmal einen bösen Blick der Bestie aufgefangen
haben meinte, rief er wohl durch den Raum:

— Seihen Sei sick vör, Mamsell!

Unter dem durchdringend auf ihn gehefteten Blick des Mädcln 11
wurden dann die Bewegungen des Thieres aus katzenhaften zu hündisch e11
es sah aus, als suchte er seinen gewaltigen Kopf zu verstecken, und
Schlagen des Schweifes glich einem demüthigen Wedeln.

Der letzte Tag des Marktes wurde wie üblich besonders gefe ,c
Punkt 12 Uhr begann das Festmahl in dem Riesensaal, der das g‘ 1IlZ
 
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