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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Löwinsohn, Eugen: Die Diva und ihr Haus
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Lenbach, Ernst: Der tolle Wolf in Polen: Fieberphantasien eines Genesenden
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0244

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154

MODERNE KUNST.

Ich wollte auf diese gerade nicht mehr ganz neue Argumentation etwas er-
wiedern, aber noch bevor ich dazu kam, fuhr Frau Lucca fort:

„Seitdem die Italiener da sind, bin ich Wagnerianerin geworden."

„Ah!"

„Ja, — ich bin nie Anti—Wagnerianerin gewesen. Das war nur so ein Ge-
rede! Und warum? Weil ich keine Wagnerrollen gesungen habe! Ich Drei-
käsehoch, soll ich vielleicht die Brunhilde singen? Mit meinen Schülerinnen
studire ich Wagner sehr fleissig."

„Ich wundere mich nur, Frau Baronin, wenn Sie den Italienern Rohheit vor-
werfen, dass Sie dann für Wagner schwärmen. Es ist ja bei ihm freilich alles mehr
in die sogenannte ideale Ferne gerückt; aber zum Beispiel die Meistersinger — “

„Die Meistersinger kann ich auch nicht leiden.“

Ich wollte noch auf Siegfrid, mit seiner Verherrlichung der Geschwisterliebe hin-
weisen, aber mit jener Lebendigkeit, durch die sie in früheren Jahren das Entzücken
ihrer Zuschauer wachgerufen hatte, fuhr die grosse Sangesmeisterin schon fort:

„Wagner wird einmal A'ile todtmachen, wenn die Wagnerianer nicht mehr
sein werden. Die allein sind Schuld daran, wenn er noch nicht allgemein durch-
gedrungen ist.“

Sie mochte auf meinem Gesichte wohl eine Verwunderung warnehmen, denn
erläuternd fügte sie hinzu:

„ Wagner hat wunderschöne, herrliche Stellen, aber dann wieder ganze Strecken
von schrecklichster Langweiligkeit. Die müssen fort! Was soll das Publikum
damit? Wenn die Wagnerianer nichts opfern wollen, sollen sie Vorstellungen
für sich allein veranstalten, aber nicht vom Publikum verlangen, dass es sich zu
Tode langweilt!“

Und plötzlich blitzt es in ihren etwas träumerisch in die Ferne gerichteten
Augen auf und ohne jede weitere Vermittlung fährt sie sogleich fort:

„Und überhaupt — was heute alles geboten wird — die Bellincioni — ich
begreife die Leute nicht! Neulich im Concert —“ und sie deutet mit dem Zeige-
finger der rechten Hand auf die Stirn, während ihre Redeweise einen wahrhaft
dramatischen Ausdruck annimmt — „ich wollte den Wienern zurufen: Ihr s.eid
ja verrückt! Die Frau hat ja gar keine Stimme, die kann ja nicht singen! Ja,
sie ist eine schöne Frau —“

„Schön?“

„Jawohl, diese Halspartie, sehr schön, aber keine Sängerin!“

„Nun, jedenfalls besitzt sie doch eine bedeutende Darstellungsgabe.“

„Dann soll sie Schauspielerin werden! Uebrigens ist das auch nicht wahr;
ich hab’ sie als Santuzza gesehen — ich bitt’ Sie — ist das Schauspielerei?“

Die Künstlerin, die für ihre Ansichten, für ihre ganze Richtung leidenschafi

lich eintritt, ist plötzlich ganz lebendig geworden. Im Augenblick hat ste

Kniee hochgezogen, so dass .sie, ohne den Oberkörper beugen zu müssen.

die

be-

quem die Ellenbogen auf sie stützen kann, und während ihr Gesicht etnen

stump*'

Mund;
ist.

sinnigen Ausdruck anr.immt, steckt sie die Finger beider Hände in deu
und in dieser Stellung, in der sie einer kauernden Japanerin nicht unähnlich
sagt sie:

„So sitzt sie als Santuzza!“

Und in den nächsten Secunden drückt ihr Gesicht schon wieder die gaitz e
Entrüstung aus, die sie über diese Darstellungsweise empfindet. Ich entgegne-
„Die Bellincioni hat auf diese Art wohl eben das Weib aus dem Volk e
charakterisiren wollen, das in seiner Verzweiflung“ —

„Ach, Weib aus dem Volke! Die Kunst hat schön zu sein.“

„Das ist eben die grosse Frage. um die man jetzt streitet, ob Wahrheit ode r
Schönheit das oberste Prinzip der Kunst zu sein hat.“

Um die Lippen der grossen Künstlerin zuckt es ein wenig, als wollte sie
sagen: FürEuch mögen das streitige Fragen sein, für mich nicht! Und mit ruhig er
Bestimmtheit, die im scharfen Gegensatze zu der eben noch vorhandenen E r
regtheit steht, sagt sie:

„Man kann sich nie von deu Anschauungen, unter denen man gross g e
worden ist, frei machen. Und für mich hat die Wahrheit immer da aufgehö rt’
wo sie aufhört schön zu sein!“

Liegt in diesern Bekenntniss nicht zugleich die Erklärung für den unwide 1^
stehlichen Zauber, mit dem diese seltene Frau eine ganze Welt gefangen nahm-
Nur das Schöne existirte für sie, und alles Uebrige war nicht da! Und d er
Schönheit, wenn sie mit Geist und Anmuth gepaart ist, erliegt man so gern-
Die Zeiten sind andere geworden. Die Wahrheit, die wohl verdeckt, aber ni ctlt
vernichtet werden kann, hat sich in den Vordergrund geschoben und macht d cr
Schwester Schönheit bedenkliche Concurrenz. Ob einer Pauline Lucca, die he ute
zum ersten Mal die Bühne beträte, die Herzen im gleichen Maasse zuflieg elt
würden, wie der „göttlichen Pauline“ der sechziger und siebziger Jahre?
wollte das bestimmt sagen? Aber was man ganz bestimmt sagen kann, ist, da sS
diese neue Lucca sich nicht mit der ängstlichen Wahrung der Schönheitslinie
im Sinne des Salons —• begnügen, sondern ebenso wie alle grossen Künstler u 11^
Künstlerinnen, welche die letzten Jahre haben empor kommen sehen, dem Z elt
geiste folgend sich der sogenannten „realistischen“ Kunst in die Arme werf eI^
würde, denn es kommt eben immer, wie die Meisterin selbst sagt, nur dara u
an, unter welchen Anschauungen man gross wird. —

f

tolle Äolf in

olen.

Fieberphantasien eines Genesenden.

Von E. Lenbach.

ie merkwürdig diese Geschichte ist, mögen die Leser

beurtheilen. Ich schicke aber voraus, dass sie nur

von Solchen gelesen sein will, die selber schon einmal
*

krank waren und insbesondere jenen Uebergangs-
zustand zwischen Krankheit und Genesung kennen, in dem der Mensch wie
ein Schiffbrüchiger an den Dünen der Gesundheit liegt und sich einst-
weilen darauf beschränken muss, da zu sein. Schlafen ist in diesem Zu-
stand das Heilsamste und Bequemste; es kommen aber Stunden und Tage,
wo Leib und Seele ihr letztes Schlafvermögen ausgegeben haben, ohne
vorläufig zu etwas Anderem Kraft und Lust zu besitzen. Der Geist, durch
die Arbeitseinstellung seiner beiden irdischen Gehülfen ausser Stande ge-
setzt, einen nutzbringenden Betrieb zu eröffnen, beschäftigt sich damit,
wie ein gelangweilter junger Arzt ohne Patienten in seinem Photographie-
Album zu blättern. Gedanken und Bilder jagen sich, sie werfen einander
ordentlich über den Haufen und verwirren sich zu wildverknäulten Gruppen,
die einem oberbayerischen Kirmessbild von Oberländer Ehre machen
würden.

In einer solchen gesegneten Stunde gerieth mir eine Holzschnitt-Copie
jenes wundervollen Gemäldes in die Hände, mit dem sich ein polnischer
Maler vorlängst die Münchener Goldene Medaille errungen. Eine Winter-
nacht, unten weissgraue Unendlichkeit des Schnee’s, oben das unendliche
Graublau des Himmels, besät mit flackernden Sternpunkten. Im Hinter-
grunde tief unten ein Wolhynisches Dorf, halbvergraben unter dem Schnee;
darüber vorn auf der Höhe die einzige lebende Gestalt des Bildes, ein
riesiger Wolf, mit gierigen Nüstern in die Ferne spürend, die Ohren

gespitzt, die Ruthe eingeklemmt, ein vierbeiniger Genius des Hungers un
des Frostes.

Es war nur ein Holzschnitt, aber in seiner Art so vorzüglich wie d aS
Urbild, dessen Farbenwirkung er zur Genüge ahnen liess. Es stand w 111'
vor der Seele, als ich das Blatt längst wieder weggelegt hatte. Ich schl 033
die Augen, um einen neuen Schlafversuch zu machen. Aber nun begä 11' 1
der müssige Geist seine Spielerei. Dieser Wotf, stand er nicht da ' vte
ein König inmitten seines furchtbaren, todesstummen Reiches? Und ' vl£
ein recht böser, blutdürstiger König; sagen wir wie Richard der Dritte, 11111
dem er auch den krummen Buckel gemeinsam hatte. „Ein Königreich fd 1 11
Pferd!“ Was? Für ein Pferd?! Für ein mageres Ferkel würde di° sel
zottige Räuberkönig der Steppe jetzt sein ganzes Reich geben; oder "'ä 1’
ihm sonst der Zufall an Essbarem in den Weg führte, und wäre es selh a
ein Mensch, ein halbverhungerter Bauernknecht oder ein Landbriefträg el
Oder — unversehens tauchte aus den trübsten Tiefen meines Gedächtnis sea
der Abc-Vers auf, mit welchem man uns Kindern die reizvolle Gestalt
grossen W einzuprägen suchte:

Der tolle Wolf in Polen frass

Den Tischler mit dem Winkelmaass.

Und da sah ich ihn auch schon von dem Dorfe heraufstapfen, die sel
unseligen Tischler; lang, dürr wie sein Winkelmaass, in dunklem J^ al1
sich scharf abzeichnend von der weissen Schneefläche, in welcher
wunderliche Zickzackspuren einzeichnete. Natürlich ging er im Zickza''
denn er war ja betrunken. Das sah ich ohne Weiteres ein. Erst cl1 1
weil wir überhaupt nicht geneigt sind, bei einem polnischen Dorftischl e
 
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