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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Lenbach, Ernst: Der tolle Wolf in Polen: Fieberphantasien eines Genesenden
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0246

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i5 6

MODERNE KUNST.

im Winter nach sechs Uhr Abends einen anderen Normalzustand anzu-
nehmen; und zweitens, weil ein halbwegs nüchterner Mensch doch um
diese Zeit nicht aus dem Dorfe auf die Höhe hinaufklettern wird, gerades-
wegs dem Wolf in’s Maul. Ofifenbar, der Mann war stickenduhn, wie man
in Hamburg sagt, — so duhn, dass er den Weg auf die Höhe mit der
Strasse quer durch’s Dorf nach seinen Penaten verwechselte. Vielleicht
sah er den Wolf gar nicht, vielleicht hielt er ihn für seine Frau, getäuscht
durch das Beiden gemeinsame Funkeln der Augen. Jedenfalls war er ihm
jetzt schon ganz nahe; das Unthier setzte bereits zum Sprunge an. In
diesem Augenblicke fuhr mir plötzlich ein neuer Gedanke durch den Kopf
und liess die Gestalt der Todescandidaten bis zur Zwergenkleinheit zu-
sammenschrumpfen; denn wie hätte der Wolf einen Mann fressen können,
der zweimal so gross war wie das Thier selber? Und es stand doch ge-
schrieben, dass er ihn frass. Aber während sich nun die Bestie iiber den
verzwergten Tischler herstürzt, komrnt mir blitzschnell ein schweres Be-
denken: das Winkelmaass! Mcine lüderliche Phantasie hatte vergessen, es
mit zu verkleinern. Da stand es, gross und lang, aufrecht im Schnee und
beobachtete gefühllos, wie sein Herr und Meister im Wolfsrachen ver-
schwand. Natürlich, es fühlte sich gesichert. Denn es blieb mir uner-
findlich, wie der Wolf dieses grosse Winkelmaass herunterbringen wolle.

Es schien, als ob der Wolf mein Bedenken theile. Noch leckte er
sicli ab und zu mit der langen rothen Zunge im Vollgefühl der ersten
ordentlichen Sättigung seit acht Tagen die Lefzen, aber seiner Seele
Frieden war ofifenbar gestört. Aufgeregt schnoperte er an dem Winkel-
maass herum, zwischendurch die Nase klagend zum Flimmel erhebend,
als verzweifle er an seiner Aufgabe. Schliesslicli warf er es um, sanft
sank es in den Schnee und bildete nun mit der Furche, die es vorher
hineingedrückt, ein dunkles, tadelloses rechtwinkliges Dreieck.

„Das Quadrat der Hypothenuse ist gleich der Summe der beiden
Kathetenquadrate.“ Dass mir als einem akademisch gebildeten Deutschen
dieser Satz sogleich einfiel, war mir weiter nicht merkwürdig. Mit einiger
Venvunderung aber gewahrte ich, dass auch in dem polnischen Wolfe sich
das Gewissen des Pythagoras regte. Nach kurzem Besinnen fing er an,
wie von einem inneren Zwange getrieben, mit der rechten Vorderklaue
langsam und bedächtig die drei Quadrate in den Schnee zu zeichnen. In

Anbetracht der anatomischen Schwierigkeiten gelang es ihm noch zieml' c
gut. Nun aber kam das Schwerste: der Beweis. Zögernd, oftmals i nne
haltend und gedankenvoll vor sich hinstarrend, begann er mit gespitzt^
Pfotc die Hülfslinien zu punktiren und — richtig! hatte ich’s doch gedacht
zieht das dumme Vieh die falsche Diagonale, — genau wie es mir weila’ 11^
zu Bonn im Doctor- und Magister-Examen ergangen. Aber freilich. s°
etwas lernt sich nicht so leicht wie Tischlerfressen.

Das dachte auch der Wolf. Eine Zeit lang tiftelte und wischte er n° c^
an seiner verfahrenen Beweisführung herum, schliesslich fuhr er wüth eI1
mit dem Schweif darüber, dass Zeichnung und Winkelmaass unter eii 1' 1
Schneewolke verschwand, dann nahm er Reissaus und lief wie der Wi nL
quer durch das Bild, links am Rahmen heraus in die weite Welt.

Nun aber gerieth mein Geist in eine fieberhafte Unruhe. Der
musste doch das Winkelmaass .fressen! Denn es heisst doch:

„Der tolle Wolf in Polen-“

Halt! rief ich erleichtert, da haben wir’s! Der tolle Wolf frass zu h e' n
Tischler auch noch das Winkelmaass. Natürlich thut so etwas nur 1,1
Wolf, der ganz toll ist. Wer möchte denn auch wohl bei einigermaass 6'
gesundem Verstande ein hölzernes Winkelmaass verspeisen?! Offe 11^ 111
war das hier nicht der tolle Wolf; es war ein ganz gescheutes Thier, '"
lupus sapiens.

J ‘.ß

Aber sogleich gähnte meinem aus der Scylla erlösten Geiste 0
Charybdis entgegen: Den Tischler hat er doch gefressen: der Dichter h (
tont aber ausdrücklich, dass es der tolle Wolf war, der dies that; folgl"
musste cr auch das Winkelmaass fressen! — Darüber vergingen mir schli eSS'
lich die Sinne.

Als ieh aufw.achte, ohne eigentlich geschlafen zu haben, fühlte ich d |C
ärgsten Kopfschmerzen, aber das Problem war und blieb ungelöst, untl h'-
auf den heutigen Tag weiss ich noch nicht: Hat der Wolf das Winkelmä aS
gefressen? War es der tolle Wolf oder der andere?

Es könnte ja doch sein, dass er sich nur im Walde bei einem älter eI
Collegen nach dem Beweis für den Pythagoreischen Lehrsatz erkundig" 1
wollte, um dann später wiederzukommen und das Winkelmaass auD"
knabbern. Aber wer sollte einem tollen Wolfe so viel Uebet'leg n" r
zutrauen?

—^pnaere

/^\ie Legende pflegt die Versuchungen, denen das Seelenleben des Menschen
durch die Vorspiegelungen der Einbildungskraft ausgesetzt ist, zu materiali-
V) siren als Truggebilde, die von den Mächten der Finsterniss geschaffen
und entsandt werden. Wie sie die Heiligung in der Abwendung von irdischen
Genüssen sieht, so wird diese Entsagung natürlich nur nach schweren Kämpfen
errungen, wie sie der Böse, um das Reich Gottes zu schädigen, heraufbeschwört.
Besonders die Heiligen Antonius und Hieronymus gelten als Versuchsobjeete für
alle möglichen Verlockungen. Diese düsteren Anachoretengestalten, von dem
ganzen phantastischen Höllenspuk umwirbelt, wurden dann ein dankbarer Vor-
wurf für die Maler aller Zeiten, besonders für die Niederländer. Als Meister
Siemiradzki die Versuchung des Heil. Hieronymus malte, hat ihn sicher zu-
nächst der Reigen der schönen bacchantischen Weiber gereizt. Aber den be-
rühmten Kirchenvater und Einsiedler verfolgen noch andere Wahngebilde, so
vor Allem die Sucht nach Philosophen- und Rhetoren-Ruhm, und da taucht
denn im Hintergrunde das Bild der Rednerbühne auf dem Forum Romanum mit
den Schiffschnäbeln auf, und die Gestalten berühmter Staatsmänner ünd Welt-
weiser scheinen ihm lockend zu winken. £r aber ringt, arn Felsen nieder-
gesunken, die Hände irn Gebet und wendet mit geschlossenen Augen das Haupt
ab, um nicht zu erliegen der sündigen Versuchung.

Und doch haben sie es sich eigentlich ein wenig leicht gemacht, die Heiligen
Anachoreten, mit ihrer Weltflucht. In den afrikanischen Wüsten hatten sie doch
immer nur mit den eigenen Phantasiegebilden zu kämpfen, im Getriebe der
Welt tritt die Versuchung greifbarer auf und körperhafter. Ein junges Menschen-
kind, wie es R. Madrazo „in der ersten Blüthe“ der Unschuld schildert, sieht
mit traumhaften Augen in die unverstandene Wirrniss des Lebens, bis
sie ihm aufgehen über den Abgründen, vor denen es schaüdernd zurück-
schreckt. Ist der Glaube an das Gute und Schöne stärker in ihm, als
die durch Erfahrung reifende Klugheit, dann versinkt es taumelnd in den
Abgrund und findet die Rettung vor der Versuchung in jener unwiderruflichen
Abwendung vom Leben, in der Selbstvernichtung. In rührender Schlichtheit hat

ilder.

.n n

solch’ ein Menschenkind der Bildner Adolf Brütt geformt. Ein rauher Seem a'
hat den jungfräulichen Leib gerettet „aus der Brandung des Lebens“, in die e'
versunken.

Wohl ist des Lebens Wonne gemenget mit Bitterkeit, aber der harml° sel

Freuden gab es von jeher die Fülle. Wenn man die Feste feiert, wie sie fall® 11

hat selbst ein Kaffeeklatsch im Freien seine Vorzüge — seit unserer Grossnm 1

Zeiten. Auch „Anno dazumal“ fand ntan sich zusammen in Mieder und Br" s^

tuch, mit flatternden Bandschleifen und zierlich gebundenen Schuhen und sp

von dem lieben Nächsten natürlich nur Gutes. Und kleine Leckermäuld 1^

denen der süsse Kuchen mehr galt, als der Iiebe Klatsch, fehlten auch dam ^

nicht, eben so wenig wie die Schoosshündchen, an die man seinen Uebersch u:’

. he n

von Zärtlichkeit verschwendete. Wurden sie lästig, so schickte man sie e
fort, um sich weiter zu ergehen in der wohlwollenden Kritik — der Anderem
Ein wenig anspruchsvoller ist man im Uebrigen doch wohl mit der
geworden in der Wahl der Genussmittel. Die Nerven bedürfen, um ange ne

zu vibriren, starker Reizmittel. Die Frauenschönheit allein thut’s nicht m ,

Ll*

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au'

Sie ist ihrer Erfolge am sichersten, wenn sie sich im kurzen Gazeröckchen
dem Panneau präsentirt, gefahrvoll auf dem Rücken des galoppirenden
balancirend. Gespannt hängen die Blicke der Zuschauer „im Circus“ an
zierlichen Gestalt der Kunstreiterin. Die Vorstellung, dass ihre schönen Gu ^
im nächsten Augenblick zerschmettert am Boden liegen können, die sel tsa^.e
Mischung von Gefahr und grotesker Komik, wie sie die Arena bietet, regt {
erschlafften Nerven angenehm an, die auf einen wirklichen Kunstgenuss 1,1
mehr reagiren wollen. Es ist eine gar gemischte Gesellschaft, die O.

a 1

in seinent Circus unterbringt. Offiziere und Cavaliere, die an Pferden uno ^
geschiirzter Frauenschönheit gleichviel Gefallen haben. Auch die liebe J u-

d' e

d er

fehlt nicht in hoffnungsvollen Exemplaren beiderlei Geschlechtes. Man kann
heranreifenden Kleinen nicht früh genug bekannt machen mit den Spässen ^
Clowns. Fiir die Jugend ist bekanntlich das Beste gut, und das Lachen
man niemals zu früh lernen.
 
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