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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Londoner Verkehrsleben: von einem Londoner
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MODKRNE KUNST.

187


I

Das Verkehrsleben concentrirt sich zu bestimmten
Tagesstunden auf denselben Wegen und Plützen.

Morgens um 5 Uhr beginnt der Verkauf der Lebens-
mittel auf den grossen Hauptmärkten. Nach dem grossen :

Fischmarkt Billingsgate in Lower Thames-Street wer-
den die Riesenkörbe mit Meeresbewohnern, Austern, ;

Schalthieren und Fischen, geschafft und an Klein-
händler und Private, die billig einkaufen wollen, ab-
gegeben. Coventgarden bedeckt sich uni Sonnenauf-
gang mit einem Flor von Blumen und Zierpflanzen, |f
der aus dem saftigen Griin aller möglichen Gemüse- f
sorten aüfragt. |(j

Zwischen 9 und 10 Uhr ergiesst sich der Strom
der Geschäftsleute aus der äusseren Enceinte und aus }

den Vorstädten in die City. In den Mittagsstunden j
beginnt der Besuch der Kaufläden für Gegenstände,
die über des Leibes tägliche Nothdurft hinausgehen.

Gieichzeitig belebt sich das Westend mit eleganten
Gefährten und Reitern. Die „Upper Ten“ geben sich
das gewohnte Rendezvous in Hydepark.

Dann tritt eine Ruhepause ein. Der Geschäfts-
niann nimmt in irgend einem Grillroom sein beschei-
denes Luncheon ein oder begnügt sich mit einem Bis-
cuit, den er mit einem Glase Sherry befeuchtet. Der
besser Gestellte lässt sich im Heiiti ein paar wanne
Platten serviren und widrnet sich bis zum Diner der
Ruhe oder der Lectüre.

Erst gegen Abend beleben sich die Strassen von
neuem. Der „Tradesman“ und der „Clerk“ eilen nach
Hause zu ihrer Familie und der Vergnügling rüstet sich für den Besuch des
Theaters. Gegen 9 Uhr wälzt sich ein schwarzer Menschenstrom den Strand
entlang, wo die meisten Theater liegen, um gegen 11 Uhr zurückzuwogen.

Iin Coupe der unterirdischen elektrischen Bahn.

Um Mitternacht kommt über die Weltstadt jenes gleichmässige Atlunen,
das von kurzer, gesunder Ruhe zeugt, die in allerFrühein ewigem Kreis-
lauf demselben Hasten und Drängen weicht.


nsere

in dcr Kunst und in dcr Poesie das in Woit und Bild Undarstellbare
beginnt, da setzt das durch das Uebereinkoinmen verständlich gewordene
Sinnbild ein. „Dic Nacht“ mit ihrem Zauber und ihrem Grauen ist als solche fiir
den Maler unfassbar. Ihre Wirkung auf Landscfaft, Architektur und lebende
Wesen genügt ihm nicht für die Darstellung, er möchte sic wiedergeben in ihrcr
niystischen Allgemeinheit, in ihrer ruhigen, traumhaften Allgewalt. Da wird sie
ihm zum schönen, räthselvollen Weibe. Ueber dem dunklen Haar leuchtet dic
Mondsichel. Vom Hinterhaupte herab wallt der schwarze, sternenbesetzte
Schleier. Geisterhaft hebt sich das feine Profil von dcm Flor ab, und die Augcn
blicken sehnsuchtsvoll, märchensinnig in die Ferne.

Nächst der Musik entspricht das Räthselhafte, Unfassbare am besten dcn
bcweglichen Ausdrucksformen dcr Dichtkunst. In Goethe's „Fischer“ athmet das
dunkle Zurückschnen des Menschen nach der Natur, nach dem unbewussten
Aufgehcn im Weltganzen:

Sic sang zu ihm, sie sprach zu ihm:

Was lockst Du meine Brut

Mit Menschenwitz und Menschenlist

Hinauf in Todesgluth?

Ach wüsstest Du, wie’s Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,

Du stiegst herunter, wie Du bist,

Und würdest erst gesund,

Als Meister Papperitz sich durch die Schlussworte des Goethe’schcn

Gediclites: . .

„Halb zog sie lhn, halb sank er hin

Und ward nicht mehr gesehn“

zu seinem Bilde begeistern liess, verdichtete sich ihm das unhestimmte Sehncn
der im Volkston gehaltenen Ballade den Gesetzen seiner Kunst gemäss zu fcst
ümrissenen Gestalten. Um des schönen Nackten willen wurde ihm der „Fischer“
2um antiken, rcblaubunikränzten Epheben, „das feuchte Weib“ zur Quellnymphe.
Babei ging der Grundton der Dichtung verloren, das Volkslied verwandelte sich
2Um ldassischen Schäfergedicht, aber der Künstler behält Recht. Den wunderbar
s>ch zum Kuss entgegenschmiegenden jugendschönen Gliedern gegenüber ver-
stummt die hjiperkluge Kritik. Die Phantasie des Künstlers hat das dichterische
Motiv nach selbstherrlichen Gesetzen umgeschaffen.

cpilder.

So selir die moderne Sjnnbolik sich von dcr ldassischen Ueberlicferung
loszumachen sucht, sie muss doch oft genug auf die iiberkommenen Ausdrucks-
formen zuriickgreifen. Unter den Füssen des aus der Schlacht heimkehrenden
Kriegerpaares, wie es Jean Hugues in seiner Marmorgruppe „Victoria“ darstellt,
liegt die eroberte Kanone, dic Hand des zum Tode verwundeteil Jünglings aber
hebt mit letzter Kraft die Statuette einer gefliigelten Siegesgöttin empor. Die
Bildung der nackten Körper und der ausdrucksvollen Köpfe ist durchaus modern,
dasSchwei t in der herabsinkenden Hand des von seinem Gefähiten geschützten
Kriegers und das Symbol des Triumphes sind der Antike entlehnt.

Viclleicht beruht der Hauptrciz der klassischen Anschauung, des antiken
Lebens, clarin, dass es uns so weit entrückt, in abgeklärten Umrissen überliefert
ist. Sobald man es in seiner Alltäglichkeit unserem Empfinclcn näher bringt,
beriihrt es fremdartig. Dass es bei dcn altcn Giiechen und Römern nicht vicl
anders zugcgangen ist, wie bci uns, wissen wir alle, aber wir sind einmal daran
gewöhnt, uns die Leidenschaften von Anno dazumal grossartiger, in ihrer
Bcthätigung kräftiger und ursprünglicher zu denken. Wenn uns Boulanger
auf seinem „Römischen Sklavenmarkt“ den alten Händler Storax darstellt, vvie
er. die Knute am Arm, behaglich sein Frühstück verzehrt, während hinter ihm
seine menschliche Waare stumpfsinnig vor sich hinbrütet oder begehrlich nach
dcr leekcren Speise rchielt, so ist das ein Stück in das Alterthum hineingcm.alter
socialer ITage. Die reconstruirte realistische Scene wirkt wie eine historische
Wahrheit, aber wir sehnen uns aus ihr heraus nach der heroischen Lcgende,
die uns auf den Schulbänken begeistert.

Auch die Vergangenheit soll im Bilde zum Empfinden sprechen, auch wenn
die Wahrheit dabci ein wenig zu kurz kommt. Die Französischen Emigranten,
die von der Revolution vcrtrieben, auf fremdem Boden eine Zuflucht suchten,
sehen im Lichte der Geschichte nicht immer so mitleidswürdig aus, wie sie der
reiferen Jugend gcschildert werden. Aber wenn G. Bondaux in seiner „Rück-
kchr aus dcr Verbannung“ einen jener ausgestossenen „Grands Seigneurs“ mit
abgezogenem Hute an den grasüberwucherten Gräbern seiner Vorväter stehcn
lässt, einsam in einer ihm fremd gewordenen Welt, so löst sich von dem
geschichtlichen Hintergrunde ein rein menschliches Empfinden los, das über das
Jahrhundert fort seincn Wiederhall findet.
 
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