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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Stahl, Fritz: Polnische Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0422

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J. Falat. Blasender Scliäfer.

aische eKunst

Von Fritz Stahl.

[Nachdruck verboten.]

Luft machen miisse. Es kann kein Zufall sein, dass gerade seit der Mitte des

Siteszcze Polska nie zginela.“ In trotziger Zuversicht sangen es die Polen als
J) Antwort auf den verzweifelten Schrei voin Ende, den böswillige Erfindung
ihrem Kosziusko in den Mund gelegt hatte. „Noch ist Polen nicht verloren.“
Das Wort, das sogar bei uns Deutschen zum geflügelten geworden ist, hat durch
die Geschichte eines Jahrhunderts eine gewisse Bestätigung erhalten, wenn auch
in anderem Sinne, als es einst gesprochen wurde.

Es giebt kein polnisches Reich mehr. Dreimal dreigetheilt konnte es nicht
mehr zu staatlicher Einheit gelangen, mit wie feuriger Begeisterung, mit wie
tapferem Muthe seine Söhne für dieses Ziel kämpften und starben. Die Nach-
kommen der alten Bürger sind Russen, Oesterreicher und Preussen geworden.
Aber wie es vor der Aufrichtung des Deutschen Reiches ein Deutschland gab,
so giebt es nach dem Fall des polnischen Reiches ein Polen. Grenzen und
Schlagbäume haben nicht die Macht, die Kinder eines Volkes zu trennen, ihnen
die Gemeinsamkeit der Gesinnung und des Empfindens, die Gemeinsamkeit der
geistigen Güter zu rauben. Polen bekleiden in allen drei Reichen hohe Aemter,
sie dienen in den Heeren, im Grunde ihres Herzens sind sie nicht Russen, nicht
Oesterreicher, nicht Preussen, sind sie eben Polen, wie ihre Väter es w Taren.
Das mag fiir die Staatsmänner unbequem sein. Hat doch Bismarck gelegentlich
geklagt, dass wir zu viel Polen haben. Das mag den Bürger beunruhigen. Vom
rein menschlichen Standpunkt ist diese Treue sympathisch, zumal wir sehen,
dass sie köstliche Früchte trägt. Es würde in dem europäischen Kunstconcert
eine wichtige Stimme fehlen, wenn die Polen keine Kunst hätten. Es ist als ob
sich ihr ganzes leidenschaftliches Nationalgefühl, dem das natürlichste Feld für
seine Bethätigung, der Staat, fehlt, nun in der künstlerischen Hervorbringung

Jahrhunderts, fast genau seit der Zeit, wo ihre politischen Prätentionen wenigstens
nicht mehr offen verfochten werden, ihre Eigenart in Literatur und Kunst so
scharf hervortritt.

Es giebt eine polnische Kunst. Vielleicht hauptsächlich deshalb, weil Polen
nicht nur eine staatliche, nicht nur eine nationale Einheit war. Die staatliche
Einheit ist zerstört worden, die nationale könnte noch zerstört werden. Aber
Polen ist eine einheitliche Landschaft, und das Gemeinsame, das diese Land-
schaft ihren Söhnen giebt, kann keine Macht der Erde vernichten. Es versteht
sich fast von selbst, dass, wenn man von einer polnischen Kunst spricht, nicht
von einer eigenen Technik die Rede ist. In ihren handwcrklichen Grundlagen,
in ihren Mitteln ist diese Kunst vom Westen abhängig, hat sie sich parallel mit
der allgemeinen Entwicklung entfaltet. Aber ob die Künstler in Paris oder
München die Schule durchliefen, sie blieben wie ihre Brtider, die in Warschau
und Krakau malen lernten, die Kinder der Steppe.

. Die Steppe ist die grosse Freundin der Polen. Sie bildet den Hintergrund
für das Leben der Nation wie des Einzelnen. Sie war die Zeugin der grossen
Leiden ihrer Geschichte und ist die Zeugin der kleinen Freuden ihres Lebens.
Auf der Steppe haben sie ihre leidenschaftlichen Kraftthaten ausgeführt und auf
der Steppe belauschen sie ihre zartesten Empfindungen. Sie hat den brausenden
Ruf ihrer Kriegsdrommeten gehört, sie hört die Hörner, die zu fröhlichem Gejaide
rufen, die Fiedel, die zu tollem Tanz aufspielt, die Schellen, die bei festlicher
Fahrt erklingen. Welche Weise ihre Künstler spielen, die Grossartigkeit der
Steppe mit ihrem weiten Horizont giebt den Grundton, —

IX. 22. I.
 
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