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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Meyer, Wilhelm: Marzipan: Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0230

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MODERNE KUNST.

r39

St. George Hare. Ein Liebestraum.

■und Schwester diese Briefe erhielten, sie Xaver einige freundliche
Thränen nachweinen möchten und ihn in gutem Gedächtniss behalten
sollten.

Xaver war über den Besuch erstaunt, und als der Conditor ihm sein
Anliegen vortrug, hörte er schweigend zu. Es ging ihm dann allerlei im
Kopfe umher: sein letzter schwacher Künstlerstolz und die Ueberlegung,
dass die zwanzig Mark den Kohl auch nicht fett machen und seine trübe
Angelegenheit nur wenig verzögern würden. Aber das triviale Gefühl
eines unangenehmen Hungers brachte ihn über solche Bedenken hinweg
und er ging mit.

Zwischen Paul’s elegantem Laden und dem Corridor, der zur Back-
stube führte, lag ein kleines Durchgangszimmer, wo der Conditor Bücher
führte und Rechnungen schrieb. Hier erhielt Xaver seinen Platz. Er
'bekam ein Hammelcotelette mit Rothkohl, ein Glas Bier und zum Nach-
tisch ein paar Kuchen von gestern. Dann brachte Paul einen Klumpen
Marzipan und sagte: „So lieber Freund, nun ’mal recht fleissig. Oben
-Gott Amor und rings herum zwölf kleine Liebesgötter.“

Xaver sass allein. Bisweilen kam die Mamsell in’s Zimmer und rief
in den Corridor hinein: „Hundert Windbeutel“ — „die Torte für den
Commerzienrath“ -— „frische Schlagsahne“ u. dgl. mehr. Xaver grub
seine Finger in die weiche Masse und einen Moment rieselte ein leiser
Schauder über ihn — Marzipan.

Dann begann er zu arbeiten und am Abend war Gott Amor fertig.
„Brillant!“ sagte Paul. Frau Jenny Laporte wurde gerufen und das ganze
Geschäft wurde gerufen. Die Ladenmamsells und die Gesellen, die Lehr-
jungen und die beiden Dienstmädchen. Alle sagten „Brillant“, alle waren
entzückt. Xaver sass auf seinem Stuhl vor dem Tisch, hatte die Beine
ausgestreckt, hielt die Hände in den Hosentaschen und sah mit etwas
starren und verglasten Augen auf den Marzipan-Amor. Die Andern
•standen um ihn herum und fanden immer neue Lobsprüche. Wie lange

war es her, dass man ihn gelobt hatte! Und nun wurde er gelobt. Frei-
lich von einem schäbigen Publikum.

Als der Hochzeitskuchen fertig war und Beifall und Geld eingebracht
hatte, sagte Paul zu seiner Frau: „Wir wollen diesen Xaver dauernd
engagiren. Erstens thun wir ein gutes Werk %md zweitens hat die Sache
einen praktischen Hintergrund.“ Den hatte sie auch wirklich. Die Torten
und Kuchen von Laporte wurden in der feinen Welt Mode, und die
Marzipanfiguren waren stets so entzückend, dass sie nie gegessen, sondern
von den jungen Damen aufbewahrt wurden.

So ging das Wochen und Monate.

Xaver ass seine belegten Butterbrode und Cotelettes, wurde bei dem
ruhigen Leben rund und gesund und knetete Tag aus Tag ein seine
Figürchen. Er war wie immer in sich gekehrt, sprach fast nie und starrte
in dem ewig dunklen und trüben Zimmer auf seine Arbeit. Wenn die
Mamsell rief: „Hundert Windbeutel“ oder „die Torte für den Commerzien-
rath“, so that sie das mit gedämpfter Stimme, denn Paul hatte Ordre
gegeben, dass Niemand seinen Bildhauer stören solle.

Eines Tages sagte er zu Xaver: „Wir wollen zusammen ein Glas
Bier trinken.“

Sie gingen in’s Pschorrbräu, zündeten sich eine Cigarre an und sassen
einander einsilbig gegenüber.

„A propos,“ nng Paul an, „das wollte ich Ihnen schon immer sagen,
lieber Xaver: Sie haben jetzt ein nettes Einkommen und sind aller Sorgen
ledig. Wenn Sie da vielleicht mal Lust haben, in der Freizeit wieder
richtig Bildhauer zu sein, ich meine, richtig mit Stein oder Marmor, bitte,
lieber Xaver, geniren Sie sich nicht. Ich erlaube Ihnen das gern. Im
Gegentheil: es nützt uns vielleicht Beiden. Sie kommen wieder in die
Uebung und lernen womöglich noch was dazu.“

Xaver antwortete nicht und rauchte. Nach einiger Zeit wurde das
dem Conditor langweilig und er ging. Zu dem Kellner sagte er: „Was
der Herr verzehrt, bezahle ich.“
 
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