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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [7]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0216

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MODERNE KUNST.

125

Er holte aus einer Tasche seines triefen-
etl Rockes einen Briefbogen heraus, auf
^ essen Rande ein Taubenpaar sich zärtlich

Schnäbelte.

,,Ich weiss nicht“, meinte er überlegend,

"°b Sie es ohne vorherige Erklärung verstehen
Werden. Es ist ein wenig seltsam. — Erinnern
^ te sich dessen“, fiel er unwillkürlich in seinen
Schulrneisterlichen Ton zurück, ,,was ich Ihnen
Se*nerzeit über Tropfsteinhöhlen und deren
° rmationen gesagt habe?“

Leo lächelte und war für einen Augenblick
höhere Tochter.

,,Der Tropfstein besteht meist aus kohlen-

SaUrem Calcium, oder Kalkspat!“ leierte sie

ttl°noton herunter. ,,Doch kommen auch Vitriol,

ß

rauneisenstein, Zinkblende, Bleiglanz, Eisen-
^ es, Malachit und Chalondra als Tropfstein
V° r- Abwärts hängende Tropfsteine nennt man
^alaktiten, aufwärts strebende Stalagmiten.

^ ereinigen sich dieselben, so entstehen Säulen,

^ eren Mehrheit „Orgel“ genannt wird!“

,,Gut! Setzen Sie sich!“ befahl der Doctor
ltt Gedanken verloren. Dann zuckte er auf.

’>Ach so! Ja, diese Formationen der Stalaktnen
Stalagmiten behandelt mein Gedicht. Sie
^’ssen aus einer früheren Stunde, dass es dem
^'chter freisteht, selbst todten Dingen Leben
etü2uhauchen, sie gewissermaassen zu personi-
''C'ren. Und diese Freiheit habe auch ich mir
^nommen,"

Er entfaltete den Briefbogen und las in
eiuem geheimnissvoll - düsteren, sehnsuchtge-
sch\vellten Tone:

„Die Stalaktite und der Stalagmite.
Einsam hängt die Stalaktite — weinend in der Höhlenhöh’;

Ihr strebt zu der Stalagmite; — ohne Hoffnung, voll von Weh’.
Niemals wird er sie umfassen, — niemals, ach, in Liebeslust
Zitternd sich der Holden nahen; — niemals ruh’n an ihrer Brust.

Ihre Augen lächeln weinend; — ihre Thränenquelle träufelt.

Gluthvoll sich der seinen einend, — gold’nen Trost ihm in das Herz.

„Einst wird uns das Werk gelingen, — einst, wenn sich der Kalkspat häufelt!
„Liebe wird uns heiss umschlingen, — Mich und Dich in süssem Schmerz!“

Einsam hängt die Stalaktite — in der dunklen Höhlenhöh’;

Ohne Rast der Stalagmite — aufwärts strebt voll Lust und Weh’ “ — — - -

Mit einem weichen, zitternd verklingenden Laut hatte er geendet.
richteten sich seine Augen forschend auf Leo. Sie hatte in sich
2llsammengekauert auf einem Steine gesessen und beim Anfang eines jeden
^ erses spöttisch mit dem Kopfe genickt.

„Nun?“ fragte er nach einer Weile verlegen. „Wie ist es?“

„Es stimmt!“ entgegnete sie aufstehend und sich gerade vor ihn hin-
SteUend. „E . i . n . z . i . g . e . L . e . o — Einzige Leo! Es ist zum Ver-
^eifeln! Er lässt’s nicht, dieses unsinnige Anschmachten und Andichten!
^'cht genug, dass er mit seiner Gelehrsamkeit und seinem Talent hier in
^' esem elenden Landnest hängen geblieben ist, wo von geistiger Anregung
’ eine Spur für ihn zu finden ist, verschwendet er seine kostbaren Musse-
stllnden auch an eine alberne, simple, dumme Landpomeranze, die von
^ der Poesie und Wissenschaft nichts versteht und auch nie etwas vcr-
Vehen wird. Ganz abgesehen davon, dass die Miihe einfach verloren ist.
’Lben Sie es denn immer noch nicht gemerkt, Mensch, dass Leo von
° choll, diese wilde Hummel, nicht zum Lieben und Heirathen geschaffcn
St ^ Soll ich Ihnen wirklich zu den zwei bereits empfangenen, noch einen
^ rttten Korb geben?“

Sie schrie es ihm fast in’s Gesicht.

»Oh!“ machte er tödtlich verlegen. „Bitte, Fräulein Leo, sagen Sie
Cs nicht, dass . . . .“

Sie hatte einmal angefangen. Sie wollte nun auch zum Ende kommen.

„Jawohl sage
ich es! Diesen
dritten Korb —
nun haben Sie
ihn auch weg!

Und dabei“ —
sie zerrte sich
in komischer
Verzweiflung
an den Zöpfen
— „läuft er um-
her, wie ein
Blinder, und sieht nicht das
bescheidene süsse Veilchen,
das. . . Herrgott, nun werde
ich auch noch poetisch. Kurz,

Verehrtester, haben Sie Augen im Ivopfe oder nicht? Können Sie eine
Distel von einem Veilchen untcrscheiden? Die Distel bin ich, und das
Veilchen ist —• zum Henker, warum habe ich auch mein Ehrenwort
gegeben!“

Sie lief mit langen Schritten durch die Höhle auf und nieder. Dann
plötzlich setzte sie sich resignirt auf einen Stein. Doctor Hans Seegebusch
kämpfte einen schweren Karnpf. Schon lange hatte es ihm über die Lippen
gewollt, das Neue, das von Leo —• er hatte es wohl gemerkt! — herbei-
gesehnte, absichtlich herbeigeführt; aber er scheute immer wieder vor der
Offenbarung zurück. War es wie ein Verrath? Abgesehen davon, dass
es vielleicht auch lächerlich, unsäglich lächerlich war?

„Fräulein Leo!“ presste er nach einer Weile erstickt heraus.
„Fräulein Leo!“

Sie sah finster auf.

„Nun?“

„Ist es wirklich so? Wollen Sie wirklich nichts mit . . . mit mir zu
thun haben?“

IX. 8 IV.
 
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