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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Schumacher, Heinrich Vollrat: Das Hungerloos, [9]: humoristischer Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0240

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MODERNE IvUNST.

Unwillkürlich kräuselte etwas wie ein Lächeln die Lippen des Sinnenden.

Vierzehn Tage vorher war Mia auf den Rochollshof gekommen, um
dort erzogen zu werden, nachdem ihre Geburt ihrer Mutter, Malchens
verwittweter Schwester, das Leben gekostet hatte. Malchens Fassung hatte
unter dem traurigen Ereigniss stark gelitten, und so waren sie in jener
stürmischen Winternacht plötzlich in die Welt hereingeschneit, Otti und
Leo, die Zwillinge. Und nichts war vorbereitet und Niemand dagewesen,
Winand zu helfen. Malchen aber hatte leise stöhnend und todtenbleich
auf ihrem Schmerzenslager gelegen und Mia in ihrer Wiege in dem einen,
Otti in einer Sophaecke in dem anderen und Leo in einem Waschkorb
auf Winand’s Sommer- und Winterlodenjoppe im dritten Zimmer. Und
dann hatten diese drei jämmerlich winzigen,zerbrechlichen,blau angelaufenen
Wesen angefangen zu schreien . . . zu schreien . . . Malchen war in
Weinen ausgebrochen.

„O, Winand, ob sie wohl Hunger haben?“

Winand war vor ihrem Bette auf die Kniee gefallen und hatte auch
geweint.

„Hunger, Malchen! Sie werden immer Hunger haben, ihr ganzes
Leben lang. Denn wie kann der Rochollshof sie alle satt machen? Und
so werden sie hungern, die Unglückswürmer, hungern ..."

Da war endlich die weise Frau aus der Stadt gekommen und hatte
Winand aus Malchens Zimmer hinausgeworfen.

„Die Frau muss Ruhe haben!“ hatte sie gescholten. „Zum Donner-
wetter, Herr Baron, bringen Sie die Krabben zur Ruhe! Stopfen Sie
ihnen etwas in die Mäuler; einen Zulp oder einen Gummipfropfen oder
meinetwegen auch einen Finger!“

Winand hatte vergebens nach einem Zulp oder Gummipfropfen gesucht.
Er hatte es also mit einem Finger probirt. Zuerst bei Mia und, als diese
halb erstickt und still war, bei Otti und zuletzt bei Leo. Dann hatte Mia
von Neuem angefangen, dann Otti und dann auch Leo. Und Winand
von Rocholl war unaufhörlich von der Wiege zum Sopha, vom Sopha
zum Waschkorb und vom Waschkorb wieder zur Wiege gerannt mit dem
Finger. Bis ihm endlich, da er bereits in Schweiss gebadet war und
seine Beine schon zitterten, ein rettender Gedanke gekommen war. Wiege
und Waschkorb hatte er zum Sopha gerückt und Otti den rechten, Leo
den linken Zeigefinger und Mia einen Zipfel seines Taschentuches in den
Mund gestopft.

Lange hatte er so gestanden, regungslos, wie betäubt, und immer nur
das Eine gedacht: Sie hatten Hunger, die Unglückswünner; und der
Rochollshof machte sie nicht satt. Und darum mussten sie hungern ihr
ganzes Leben lang. Ihr Loos war ein Hungerloos.

Und in diesen Wirrwarr von Sorge und Verzweiflung war Fritz herein-
geplatzt mit seiner unsinnigen Forderung. Er wollte nicht Soldat bleiben.
Er wollte studieren: Naturwissenschaften, Astronomie, Elektrotechnik oder
sonst so etwas. Und Winand sollte das Geld geben. Wenn nicht, so
werde er ja sehen, was daraus entstände.

Winand war mit beiden Händen in die Luft gefahren und die Unglücks-
würmer hatten geschrieen, jämmerlicher noch, als zuvor. Winand hatte
es kaum noch gehört. Iin nächsten Augenblick war er mit Fritz oben in
der Dachkammer gewesen, in der damals Malchen ihre Nähereien,Strickereien
und Stopfereien aufbewahrte.

„Nun, was wird daraus entstehen?“ hatte er dort gerufen.

Fritz hatte ihm herausfordernd in’s Gesicht gelacht.

„Was? Ich werde es ohne Deine Erlaubniss thun! Ich werde durch-
brennen, ganz einfach! Und wir werden’s ja erleben, wer mich in die
Gamaschenknöpferei und den Sclavendienst zurückbringt!“

Da war die Auseinandersetzung gefolgt; eine Scene . . .!

Wieder überschattete die düstere Wolke Herrn von Rocholl's Stirn,
und seine Hand fuhr, wie nach einem Halt suchend, durch die Luft —
dieselbe Hand, die damals das Gesicht des Bruders getroffen hatte; dieses
schöne, lebensprühende Gesicht, das dem des verschwenderischen und
doch so heissgeliebten Vaters bis auf den letzten Zug ähnlich gewesen
war. Und Winand war aus der Dachkammer gestürzt und hatte die Thür
hinter sich verriegelt und höhnisch zurückgerufen:

„So! Nun brenne doch durch!“

Er hatte die Strickleiter vergessen, die im Gerümpel drinnen lag seit
der Zeit, da Fritz sie zur Erforschung der Teufelshöhle angefertigt hatte.

Am folgenden Morgen war Fritz wirklich durchgebrannt; ohne ein Zeich e
des Abschiedes hinterlassen zu haben.

Auch in seiner alten Brieftasche, die Herr von Rocholl in eineffl ^
zerrissenen Strümpfen gefüllten Stopfkorbe Malchens entdeckte, fand sl
kein Anhaltspunkt. Nur zwei bedruckte Blätter lagen darin, Zeugen $
Fritz’s Anlage zur Verschwendungssucht: ein ganzes und ein Viertell°°
der sechsten Classe 80. Herzoglich Braunschweig-Lüneburgischer garantif te
Landeslotterie; das Erbe des Verschollenen . . .

ratC

Herrn von Rocholl’s Blick streifte fast scheu die aufgeschlagene er
Seite des Geheimbuches vor ihm. Da stand es von seiner eigenen H al1
geschrieben: Stammkapital 125 000 Mark, erhalten aus dem Gewinn
Looses No. 27 618 . . .

Denn das ganze Loos war mit dem zweiten Hauptgewinn hera 115
gekommen.

Winand hatte die Summe erhoben, heimlich, ohne Jemand etwas dav° fl
mitzutheilen. Auch Malchen erfuhr nichts. Warum er so gehandelt
er wusste es selbst nicht; der plötzliche Reichthum hatte ihn betäub'
Nicht dass ihm je der Gedanke gekommen wäre, sich an dem Eigenth u11

gj*

des Bruders zu vergreifen. Konnte Fritz nicht zurückkehren? Konnte
nicht Alles zurückverlangen, Rechenschaft fordern über Heller und Pfenn 1^'
über Zins und Zinseszins.

Und wenn er nicht zurückkehrte?

Wenn er zurückkehrte? Wenn er nicht zurückkehrte?

Während dieser ganzen langen achtzehn Jahre hatten die bei^ eI
I' ragen in Herrn von Rocholl’s Herzen um die Herrschaft gestritt eI
„Er wird nicht zurückkehren!“ hatte eine lockende Stimme ihm zugeflüst e,t'
und seine Hand hatte sich unwillkürlich ausgestreckt, um zu nehmen un
den Seinen zu geben. Aber die andere drohende Stimme war mächtig cl
geblieben. „Er wird zurückkehren!“ hatte sie gewarnt, und Winand's
war zurückgefahren und die Seinen hatten weiter gedarbt und gehung eI

Denn angenommen, Winand von Rocholl wäre schwach geWord cl
und hätte von dem fremden Gute genommen und hätte mit den Sei uCl
davon gezehrt und herrlich und in Freuden gelebt: was dann, wenn J e,1t
zurückgekehrt wäre?

Die Rocholl’s wären dann wieder arm gewesen, wie zuvor: ärmer no 1^ 1
In der Ueppigkeit und Schwelgerei des mühelos erworbenen Reichthu 111'
würden ihre verweichlichten und entnervten Seelen die Kraft verloU 1
haben, gegen die neue Armuth anzukämpfen und sie zu ertragen

Und so hatte das goldene Loos des Verschwundenen nichts geän'
an dem Hungerloos derer von Rocholl.

Wohl hatte Winand die verlorenen Güter der Familie Stück um Sti' |C^
zurückgekauft und das einstige Ziel seines Strebens, die Wiedervereinig un^
des gesammten Besitz in seiner Hand, erreicht. Aber nicht ein Tropf c11
dieses Goldstromes war in die durstigen Kehlen der Seinigen geflosS eI1'
Ja, in peinlicher, vielleicht übertriebener Aengstlichkeit hatte er sogar d el1
Schein der Wohlhabenheit vermieden, um auch nicht den leisesten Schinuuu 1
einer Hoffhung bei den Seinen aufkommen zu lassen, der trughaft verbla sser*
musste, sobald Fritz zurückkehrte.

Ja, Winand von Rocholl traf kein Vorwurf, er hatte seine Pflicht b 1-
in’s Kleinste erfüllt. Da stand es in klaren, starren Buchstaben und
auf dem Tische lag es in lauterem Golde und Goldeswerth, das Facit d e!
achtzehn Jahre: „261 513 Mark 18 Pfennige.“

Und wenn Fritz nicht zurückkehrte ?

Nun war es eingetreten, das Gericht selbst hatte es in nüchternen Woh cl
erklärt: Fritz vonRocholl kehrte nicht zurück; dennFritz vonRocholl war t0<L

Und Winand von Rocholl war sein Erbe.

Es war ja so unendlich traurig. Aber dennoch —

Herr von Rocholl packte mechanisch die Bücher und Papiere zusarntu^ 11
und schloss sie in das Geheimfach des Secretärs. Zu Malchens Gebuf 1- 5
tage erst würde er sie wieder herausnehmen, um die Wahrheit an’s LW* 1 ^
des Tages zu ziehen. Bis dahin mussten Malchen und die Kinder vorberei

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werden, allmählich, ganz allmählich. Sie durften nicht der Gefahr

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jähen Umschwunges ausgesetzt werden, sie mussten sich erst an das b 1

gewöhnen, Schritt vor Schritt in das verwandelte Leben hineingehen

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das Gute erst ertragen lernen, ehe sich die Fülle über sie ergiessen

durft*

War der Anfang nicht schon gemacht durch die Tapezierer, die Möb e ’
die Schneiderin und die kleinen Ueberraschungen des Abends?
 
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