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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Mann, Heinrich: Der Löwe
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0261

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172

MODERNE KUNST.

Erdgeschoss des Blauen Engels einnahm. Man hatte dazu auch die Schau-
spieler geladen. Von einigen Seiten war wohl Einsprache gegen diese
Maassregel erhoben, aber im Ganzen war die Abneigung der sesshaften,
besitzenden Bauern gegen das bettelhafte Vagabondenthum durch die Reize
der grossen Frieda zeitweilig besiegt. Sie sass an einem Ende der Haupt-
tafel zwischen dem Director und dem Sohn des reichen Prahl. Der gut-
müthig eitle Junge, an leichte Erfolge gewöhnt, hatte sich bald einen ver-
traulicheren Ton als die andern gegen sie herausgenommen, den sie mit
freundlicher Geringschätzung duldete, ohne ihn zu erwidern.

Zuweilen richtete der Bursche seinen Blick, dem die Blicke seiner
Nachbarn folgten, auf den Sergeanten Matthiessen, der seinen Platz am
andern Ende des Tisches hatte. Trotz seiner, dem Amte geschuldeten
Zurückhaltung, hatten die schlauen Bauern wohl bemerkt, wie es um den
gefürchteten Vertreter der Obrigkeit stand, und machten sich mit heim-
lichen Rippenstössen darauf aufmerksam, wie unbeweglich seine runden
Augen unter den strenge hochgezogenen Brauen auf die Gestalt der
Fremden gerichtet waren. Da that innerhalb des unentwirrbar gewordenen
Lärmes von Schreien und Lachen der junge Prahl einen Faustschlag auf
den Tisch, dass die nächststehenden Gläser umfielen, und in der augen-
blicklich eingetretenen Stille rief er durch den Saal:

— Sergeant, Mamsell will mit Di drinken!

Unter dem schon carmoisinleuchtenden Roth stieg in Matthiessen’s
Gesicht eine noch tiefere Röthe auf. Er zögerte noch; da er aber unter
all’ den auf ihn gerichteten Blicken fühlte, dass man etwas von ihm er-
warte, erhob er sich schwerfällig und ging gerade und steifbeinig mit
kleinen Schritten auf das Mädchen zu, von der sein Auge keinen Augen-
blick abliess. Ihr von der. Schminke entfärbter Teint war farblos geblieben.
Sie streckte ihm gemächlich ihr Glas' entgegen. Dass sie die Sache ruhig
nahm, machte ihm Muth, die Gelegenheit zu benutzen. Er nahm ihren
Arm unter den seinen und sie tranken kreuzweis. Als Beifallsbezeigung
erhob sich ein verdoppelter Lärm, den das Kreischen der Weiber durch-
drang.

lndess gab der Director seinen Leuten das Zeichen zum Aufbruch.
Er hatfe all’ seine beredte Kunst eingesetzt, um dem misstrauischen Wider-
stand des alten Prahl die Erlaubniss zur Benutzung seiner grossen Scheune
abzuringen. Da die „Komedi“ sich ja dort so viel schöner als in dem
engen Zelte ansehen würde und da heute Marktschluss war, hatte der alte
Bauer endlich, unter vielen Vorbehalten, seine Zustimmung ertheilt. Nun
mussten die Decorationen und Costüme hinübergeschafft werden, und die
grosse Frieda folgte ihren Kameraden.

Es fiel ihr ein, dass der Löwe, da am Morgen keine Vorstellung statt-
gefunden, noch unversorgt sei. Bevor sie die blutigen Hammelknochen
herbeiholte, trat sie in den Käfig, ging auf das zurückweichende Tlfier zu,
umfasste die gewaltige Schulter und stiess mit der freien Hand den Kopf
des Löwen langsam drei, viermal gegen ihre Brust. —-— —

Das gespielte Stück war eines der zugleich abenteuerlichen und gefühl-
vollen Art, halb Schicksalsdrama, halb Robinsonade, wie sie damals im
Gefolge von Kotzebue’s „Gurli“ in Masse aufgetreten waren.

Frieda betrat in einem weiten grauen Gewande, mit von der Furcht
angehaltenen Schritten die Scene. Sie war mit ihrem Geliebten in diese
Einöde verbannt, der Mann hatte irgend eine Expedition unternommen und
sie allein gelassen. Die Schauspielerin hatte begonnen, eine gehobene Stelle
ihrer Rede mit weiter ausgreifenden, stumm verzweifelten Gesten zu be-
gleiten, als sie die in grossem Schwunge vor das Gesicht geschlagenen
Hände mit einem Ausdruck zurückzog, der die Erfüllung einer schmerzlichen
Ahnung anzuzeigen schien. Zugleich liess -sich in dem Raume hinter der
zweiten rechtsstehenden Coulisse ein dumpfes, unheilvolles Brüllen ver-
nehmen, und der Löwe hielt, mit zögernden, der freien Bewegung unge-
wohnten Schritten, seinen Auftritt. Er wurde mit keinem Ausruf, weder
des Schreckens noch der Ueberraschung empfangen. War er aus dem
von der Wärterin bei ihrem letzten flüchtigen Besuche schlecht verschlos-
senen Käfige entkommen und hatte an der Aussenseite der nächststehenden
Gebäude herumschleichend, das in’s Freie geöffnete Scheunenthor ge-
funden? Oder lag hier ein toller Dressirversuch vor? Für mich war die
Grenze zwischen dem wachen Leben und einer gesetzlosen Traumwelt

vollständig ausgelöscht; aber wie ich später meinen Vater sagen höriA
war sie auch für ihn in jenem Augenblick stark verwischt.

Meiner Spannung wurde dureh die Haltung der beiden Handelnden,
des Mädchens und des Löwen, nichts von ihrer Fieberhaftigkeit genommen-
Die Unglückliche hatte ihre fatalistisch tragische Pose nicht verloren, ih ri
Arme waren schlaff herabgesunken, sie war sogar einen Schritt auf
Bestie zugetreten, zweifellos, wie man sich später sagte, um auf die g e'
wohnte Weise ihre Macht über den Löwen auszuüben. Er aber kam '' 0l1
seiner blutigen Mahlzeit und fühlte sich frei; ihre Herrschaft war gebrochen-
Sie musste es verstanden haben, denn sie ging, von dem Thiere m' 1
längeren, schon zu Sprüngen werdenden Schritten gefolgt, um eine de'
papierenen Palmen herum, sich stets im rechten Winkel kurz umwendenh-
wohl mit der Absicht, einen grösseren, über das Ziel hinausgethane' 1
Satz des Thieres zum Entkommen zu benutzen. Die überlegteste Da''
stellung hätte keine anderen Bewegungen gefunden als hier die von d eI
Iröchsten Lebensnoth geschärfte Geistesgegenwart. Es war ein stiller
fürchterlicher Kampf, der nicht von Dauer sein konnte. Sie blieb schw el
athmend stehen und ihr Blick, den sie nicht von dem Verfolger gelasseüi
erhielt einen namenlosen Ausdruck; es zog sich darin wie der KramP*
einer übermenschlichen Willensanstrengung zusammen. Der Löwe z°$
sich zwei Schritte zurück, dann schlich er vorsichtig um sie herum, b' s
sie ihn nicht mehr sah. Sie versuchte sich zu wenden, sie schwankte,
da sass er ihr schon im Nacken.

Es waren Sekunden gewesen von der Art, von der nur ganz wenig c
auf einander folgen können, die aber dennoch nicht zu zählen sind. I^ 1
hatte mir noch keinerlei Vorstellung von dem Geschehenen gebildet, al s
ich neben und hinter mir Alles schwanken, Einige stürzen fühlte. Zugleich
erhielt ich selbst einen Ruck, der mich umwarf. Zwischen den gespreizte"
Beinen eines Mannes hervor tauchte ich sofort wieder auf, wie das Steh'
aufmännchen von seinem Blei, so ich von dem Instinkt in die Höhe g e'
rissen, dass noch nicht Alles beendet sei.

In dem Augenblick aber, während ich die Scene aus dem Gesicht ve r'
loren, war das Uebrige geschehen.

Als ich wieder hinblickte, sah ich den Löwen mit ausgestreckte' 1

Gliedmaassen auf der Seite liegen, und auf seiner Flanke stand ein Fuss,

es war der des Sergeanten Matthiessen. Das andere Bein war weit z"'

rückgeschoben, so dass sich der Mann steif aufrecht halten konnte, obwohl

sich seine Hand nahe am weit aufgesperrten Maul der Bestie befand, lfl

deren Rachen sein Hirschfänger bis an’s Heft steckte. Sein Kopf säb

mit einer gewissen steifen,. steinernen Neigung auf das besiegte Thi eI

nieder,- die Brust trat mächtig heraus mit einer unnatürlichen Anstrengu"P

?

der Muskeln. Wo hatte ich doch diese seltsame Haltung schon geseheü-
Ja wahrhaftig, das war ja das Bild Sanct Georgs des Drachentödters aü*
der Mauer des Wachthauses.

Der Bann war gebrochen, und die Menge umringte mit lautem Schrecke"
und Staunen die Bühne, auf der eine wirkliche Tragödie der erdichtete"
gefolgt war. Durch die Anrufe schien der Sergeant zu sich gebracht 211
werden. Er liess den Griff des Messers fahren, seine steifen Glieder löste"
sich, begannen zu zittern, er stand in kläglicher Verwirrung da, sei" 6
runden Augen ganz ohne Verständniss rollend.

Der Arzt, der sich von dem schrecklich verstümmelten Körper d eS
Mädchens zu ihm wandte, legte die Hand auf seine blaurothe Stirn, aus d eI
das angestaute Blut plötzlich abfloss, und erklärte es für ein Mirakel, da»-
den Mann nicht der Schlag getroffen.

Wie er das denn so schnell gemacht habe, fragte man ihn. — J 3’
das sei so gekommen, ja, er wisse selbst nicht. Ihm sei ganz verdreht z' 1
Muth gewesen, als ob er hab’ Komedi spielen, aber doch was mächt'b
Grosses thun sollen, nur sei er garnicht mehr er selbst gewesen, sonde' 11
ganz ein anderer.

— Ein Held, sagte feierlich der Amtsvorsteher.

In dem Maasse wie er sich erholte, leuchtete dem Sergeanten di eSß
Auslegung, die zur allgemeinen Meinung wurde, ein, und er fand bald e111
naives Vergnügen an dem schmeichelhaften Rufe, der ihm aus jener D c
gebenheit erwuchs.

Kurze Zeit darauf erhielt er die Verdienstmedaille.
 
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